•fünfundvierzig•

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Bei allem, was gerade geschehen war, unterbrach Kian nicht einmal unseren Blickkontakt. Er störte sich weder an der Dunkelheit, die uns nun umgab, noch an dem zerstörerischen Ausmaß meiner Magie.
Ganz anders als ich. Ich konnte nicht verstehen, was hier gerade passiert war. Was ich hätte anstellen können, nur weil ich keine Kontrolle über mich hatte.
"Geht es dir gut?"
Seine Frage brachte mich dazu, mich daran zu erinnern, weshalb das alles überhaupt geschehen war. Was der Auslöser dieses Vorfalls war. Warum ich mitten in der Nacht vor Kians Zuhause stand.
Kian trat einen Schritt vor, als ich nicht antwortete. Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass ich die Falte zwischen seinen Augenbrauen sah.
"Hast du einen Glassplitter abbekommen? Oder dir irgendwie anders wehgetan?"
"Was?", fragte ich verwirrt, wobei es harscher als beabsichtigt heraus kam. Nein, ich hatte mich nicht verletzt. Trotz all des Kontrollverlustes hatte ich es geschafft, niemanden zu verletzen. Ein Seitenblick zu Cody bestätigte mir, dass es auch ihm gut ging.
"Wo sind unsere Väter?" Hatten sie mitangesehen, was ich getan hatte?
Kians Worte beruhigten mich. "Nein, sie haben uns alleine gelassen. Niemand, bis auf uns, hat miterlebt, was gerade passiert ist."
"Gut."

Als ich nichts weiter sagte, begann Kian zu sprechen: "Ich- Ich möchte es dir erklären-"
Doch ich unterbrach ihn. Ich hatte genug von Ausreden und Halbwahrheiten. "Warum hast du es mir nicht gesagt?" Er stockte. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du und der Wolf, dem ich so unglaublich viel anvertraut habe, die gleiche Person seid?"
Ich atmete tief ein, während ich an all die Geheimnisse und all meine Gefühle sowie Gedanken dachte, die ich ihm offenbart hatte, weil ich davon ausgegangen war, dass sie bei ihm sicher wären.
"Ich wollte es", stieß er hervor. "Ich wollte es dir wirklich sagen. Aber zuerst wusstest du nichts von uns, von dieser Welt. Wie hätte ich dir glaubhaft erklären sollen, dass dein Wolf auch gleichzeitig eine menschliche Gestalt ist und jemand ist, den du regelmäßig siehst? Also nahm ich mir vor, es dir zu sagen, wenn du Bescheid weißt."
"Nur dass du das offensichtlich auch nicht getan hast", stellte ich ironisch fest. "Außerdem habe ich dich so oft gefragt, was es ist, dass du mir verheimlichst. Bevor ich alles wusste, meine ich. Ich habe dich darum gebeten, zu mir ehrlich zu sein. Warum warst du es nicht da schon? Was hat dich davon abgehalten, meiner Bitte nachzukommen?"

"Ich konnte es nicht." Auf seinem Gesicht stand so viel Schmerz, dass ich geneigt war, ihm zu glauben. "Mein Vater und John hatten entschieden, es geheim zu halten. Sie haben uns befohlen, dir gegenüber mit keinem Wort zu erwähnen, wer du bist. Ich, so wie jeder andere auch, war an ihren Befehl gebunden. Mein Vater ist unser Anführer. Was er sagt, ist Gesetz."
Soweit verstand ich, was er mir klarmachen wollte. Doch eine Sache nagte an mir, die seine Geschichte nicht glaubhaft genug erscheinen ließ. "Und warum hat das gerade nicht funktioniert? Warum hast du nicht auf unsere Väter gehört, als sie von dir verlangt haben, dass wir getrennte Wege gehen?" Ich legte noch einen drauf, da ich erkannt hatte, was Kian mit ihnen getan hatte. "Warum hast du sie gerade manipuliert, das zu tun, was du wolltest?"
Jetzt fühlte er sich unwohl. Dennoch antwortete er mir: "Ich bin der Sohn eines Anführers. Irgendwann werde ich seine Position übernehmen. Ich habe es in mir. Nur habe ich diese... Fähigkeit, andere dazu zu bringen, meinem Willen zu folgen, davor nie genutzt. Es funktioniert auch nur bei Mitgliedern unseres Rudels."
Er blieb ruhig und sah mich an, als erwartete er, dass ich nun wieder sprach. Allerdings hatte er meine Frage noch nicht vollständig beantwortet.

Scheinbar hatte er das auch gerade begriffen, denn er seufzte, bevor er weiter redete. "Gerade, da war ich irgendwie so wütend, weil sie nicht auf dich gehört haben. Weil du sie um etwas Einfaches gebeten hast und beide deinen Wunsch übergangen haben, als wäre er nichts wert. Als wärst du es nicht wert, gehört zu werden. Sie haben nicht verstanden, was du in diesem Moment brauchtest. Und ich wollte- will mehr als alles andere, dass du dich wohlfühlst. Dass du die Chance bekommst, glücklich zu sein. Ich wusste, dass du dich nicht so fühltest. Da habe ich einfach aus einem Instinkt heraus gehandelt." Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nichts Großes, zwei erwachsene Männer dazu zu bringen, gegen ihren Willen uns zu verlassen.
Ich wollte nicht sagen, dass es richtig gewesen war. Ich fand es schrecklich, jemandem seinen freien Willen zu nehmen. Allerdings hatten mein Vater und Rick genau das mit mir gemacht. Sie hatten mir meine Entscheidung nehmen wollen. Im Grunde genommen hatte Kian nur dafür gesorgt, dass das nicht geschah.
Ich nickte als Zeichen, dass ich ihn verstand. In mir drinnen war eine solch kühle Klarheit, dass sie mich direkt entspannte. Nach der Hitze, die in mir geherrscht hatte, wegen des Durcheinanders meiner Gefühle, war diese Abkühlung ein Segen. Sie half mir, klarer zu erkennen, wie ich mich fühlte. Was ich Kian mitzuteilen hatte.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt