•neunundreißig•

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Das Gras unter meinen Händen war noch feucht vom Regen der letzten Nacht. Ich zweifelte nicht daran, dass sich die Nässe auch auf meiner Hose sichtbar machen würde, sobald ich wieder aufstand. Doch das brachte mich dennoch nicht dazu, mich über meinen Sitzplatz zu ärgern. Ganz im Gegenteil. Ich hatte ihn mir selbst ausgesucht.
Kian hatte vorgeschlagen, dass ich mich in eine bequeme Position brachte. Er saß vor mir, die Beine verschränkt, die Arme locker an den Seiten. Auch wenn er versuchte, es zu verbergen, damit ich mich nicht unsicher fühlte, war ihm anzusehen, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Wie auch? Er hatte seine Erfahrungen mit Werwölfen. Er wusste wahrscheinlich auch einiges über Vampire. Aber Hexen? Scheinbar war es für die untypisch, ihre Lehren mit anderen magischen Wesen zu teilen. Sie blieben unter sich, wie es Kian mir auch schon gesagt hatte.

Glücklicherweise waren wir nicht ganz hilflos, was mein Training anbelangte. Eduard Schöff hatte seinen gesamten Prozess, wie er erfahren hatte, was er war, dokumentiert. Auch wenn ich keine genauen Details hatte, wie er nach seiner Offenbarung mit seinen Kräften trainiert hatte, reichte das Wissen, das er mir hatte mitteilen können, dennoch aus. Schließlich startete ich bei Null. Da nahm ich alles, was ich kriegen konnte.
Außerdem hatte ich immer noch ein Ass im Ärmel. Zumindest hoffte ich, dass das der Nachfahre Eduards für mich war. Mein Musiklehrer war schließlich ebenfalls ein Hexer. Jetzt, wo ich wusste, dass ich zu seiner Art gehörte, könnte er vielleicht endlich einige meiner Fragen beantworten und mir damit helfen.
Aber zuerst würde ich mein Glück mit Kian versuchen. Ihm vertraute ich mehr. Im Grunde genommen kannte ich Mr. Schöff auch nicht wirklich. Ich wusste, er war ein Hexer und unterrichtete Musik. Weiterhin war er Zeuge meines emotionalen Ausbruchs in der Schule geworden und hatte mir im selben Moment offenbart, dass ich stärker war als er. Was auch immer ich mit dieser Information anfangen sollte. Irgendwie erweckte sie in mir den Eindruck, dass es das Training nur erschweren würde.

"Werdet ihr auch noch etwas anderes machen, als blöd rumzusitzen?" Cavyns laute Stimme schallte über die Wiese. Zusammen mit Pauline lehnte er an einer breiten Eiche. Beide hatten sich bereit erklärt, unsere Umgebung im Blick zu behalten.
Kian hatte sehr deutlich gemacht, wie wichtig es war, dass niemand von meinem Geheimnis erfuhr. Deshalb hatte er nicht nur eine abgelegene Lichtung herausgesucht, sondern sich auch Gedanken darüber gemacht, wie er garantieren würde, dass wir nicht gestört wurden. An sich wäre er mit seinem Supergehör ja ausreichend genug gewesen, allerdings schien er zu befürchten, dass er sich so sehr auf mich konzentrieren würde, dass er nichts um sich herum mitbekam. So, wie es vor unserem Aufeinandertreffen mit Yadier gewesen war.
Erfreulicherweise hatte keiner seiner Freunde ein Problem damit, den Aufpasser zu spielen. Als ich nachgefragt hatte, ob ihnen dieser Job nicht langweilig werden würde, hatten sie mir erklärt, dass es normalerweise unmöglich war, eine Hexe am Werk zu beobachten. Wenn man überhaupt jemals eine zu Gesicht bekam. Deshalb schienen sie das Gefühl zu haben, mir zu Dank verpflichtet zu sein. Ich hatte ihnen zwar verdeutlicht, dass das nicht nötig war, aber sie ließen nicht mit sich reden. Und dafür war ich ihnen sogar noch dankbarer.

"Bei der Verwandlung zu einem Wolf hilft es, sich zu entspannen. Dadurch geht die Wandlung schneller vonstatten und auch schmerzfreier. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei Hexen ebenfalls hilfreich ist, wenn Lilith sich wohl fühlt", erklärte Kian, ohne sich zu Cavyn umzudrehen. Er hatte jetzt sogar seine Augen geschlossen. Sein Anblick war gelöst und gelassen, als schaffte er es wirklich, vollkommen zur Ruhe zu kommen.
Das gab mir genügend Ansporn, mich ebenfalls in diesen Zustand zu versetzen.
"Außerdem kann ich näher an der Natur nicht sein", gab ich ruhig zurück und ließ meine Hände ein weiteres Mal durch das kühle Nass wandern. "Sie ist mein Kerzenwachs, das was mich weiter brennen lässt. Meine Energie brauche ich für das Feuerzeug, ohne dass ich die Kerze nicht zum Brennen bringen kann." Diesen Vergleich hatte Eduard Schöff genutzt, um die Verbindung zwischen einer Hexe und der Natur zu verdeutlichen.
"Ich verstehe", brachte Cavyn langsam hervor, sodass ich mich fragte, ob er das tatsächlich tat. "Ich lasse euch also einfach weiter euer Ding machen und warne euch, wenn jemand kommt." Damit drehte er sich wieder etwas mehr zu Pauline und sprach leise mit ihr. So wie er es normalerweise tun würde. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Cavyn hatte nur für mich so laut gesprochen. Die Werwölfe hätten ihn schließlich auch mit seiner normalen Lautstärke verstanden.

Ein weiterer Blick auf Kians Gestalt vor mir ließ mich alles um uns herum ausblenden. Ich wollte vergessen, wo ich war, mit wem ich hier war. Am allerwichtigsten war es mir, nicht mehr daran zu denken, weshalb ich hier war.
Ich wollte mich so fühlen, als suchte ich gerade einen Teil meines Selbst. Als ging ich nur einen weiteren Schritt des Weges, um herauszufinden, was mich ausmachte.
Es dauerte nicht lange und das Einzige, was ich hörte, waren meine gleichmäßigen Atemzüge gemischt mit dem Zirpen einiger Grillen.
Ich gab mir alle Mühe, nicht an meine komplizierte Beziehung zu meinem Vater zu denken. Ich verbannte jegliche Gedanken an die Enttäuschung, die ich gegenüber meiner Mum empfand, weil sie mich mein Leben lang angelogen hatte. In meinem Versuch, zur Ruhe zu kommen, ging ich sogar so weit, dass ich zu vergessen versuchte, dass Kian vor mir saß. Dass er mir helfen wollte, auch wenn er nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Ich ignorierte meine Wut darüber, die einzige Unwissende zu sein und dass ich es nicht ab konnte, wenn man mir etwas vorspielte. Auch meine Erleichterung, endlich Teil eines Ganzen zu sein, schob ich in eine Schublade, die ich fest versperrte, bis alles, was ich fühlen konnte, ein kühles Nichts war.

Das war der Ausgangspunkt, nach dem ich gesucht hatte. Völlig unvoreingenommen und so, dass mich nichts und niemand ablenken konnte, suchte ich nun nach meiner Verbindung zur Natur. Meiner Magie, die ich mir wie ein schimmerndes, silbernes Band vorstellte, das eine direkte Brücke zwischen mir und meiner Außenwelt bildete.
Mit geschlossenen Augen sah ich nur eine schwarze Masse vor mir, die nichts preis gab. Sie spiegelte das wider, was ich in meinem Inneren fand. Immer auf einen ruhigen, gleichmäßigen Atem konzentriert, durchkämmte ich mich selbst nach meiner Magie. Bis auf die Ecken, in denen ich meine Emotionen verbannt hatte, konnte ich nichts finden.
Vielleicht würde es mir helfen, mich an die Momente zurückzuerinnern, an denen mich meine Magie quasi übermannt hatte. Jene Situationen, in denen ich ungewollt eben jene Brücke überquert hatte, die ich nun vergeblich suchte. Doch bis auf ein Beschleunigen meines Atems, als ich daran zurückdachte, wie es sich angefühlt hatte, die Kontrolle zu verlieren, erreichte ich nichts.

"Lilith", wisperte Kian vorsichtig meinen Namen, als wäre er sich nicht sicher, ob er mich ansprechen durfte.
Ich öffnete meine Augen, was ihm reichte, um weiterzusprechen: "Bist du schon erfolgreich gewesen? Hast du etwas in dir gefunden?"
Ich blinzelte mehrmals und fühlte mich, als hätte ich geschlafen. Wie viel Zeit war bisher vergangen? Dreißig Minuten? Zwei Stunden?
"Nein", gab ich zu. "Ich war erfolglos. Ich habe rein gar nichts gefunden, das sich auch nur ansatzweise wie meine Magie angefühlt hat." Sogar ich konnte die pure, ungefilterte Enttäuschung in meiner Stimme hören. Scheinbar hatte ich es meinen Gefühlen erlaubt, sich wieder in mir auszutoben.
Natürlich war mir bewusst gewesen, dass ich nicht von heute auf morgen in der Lage sein würde, Magie auszuüben. Aber ein bisschen Fortschritt hatte ich mir schon gewünscht.
Kian bemerkte meine Enttäuschung und lächelte aufmunternd. "Du brauchst dich nicht gestresst fühlen. Ich habe Zeit. Wir müssen nichts überstürzen. Von mir aus können wir jeden Tag hier zwölf Stunden sitzen und es wäre mir völlig gleich, wenn du dann noch immer keine Fortschritte machst. Ich warte mit dir so lange, bis du dich bereit fühlst."
Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, von dem ich wusste, dass es schon längst zu spät war, dagegen anzukämpfen.

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Also von mir aus kann es jetzt wieder regelmäßig mit Kapiteln weitergehen. Ich hoffe, dem steht nun nichts mehr im Wege, denn ich habe noch einiges mit Lilith und Kian vor 😏🤐

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt