•fünfundsechzig•

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Kians Anspannung war so groß, dass ich sie im Auto fast fühlen konnte. Er bemühte sich zwar, mir meine Nervosität zu nehmen, bei ihm selbst schien das aber nicht zu klappen.
Umso näher wir seinem Zuhause kamen, umso verkrampfter wurde er. Ich konnte ihm aber keinen Vorwurf machen. Nicht zu wissen, was auf mich zukam, ließ mich nervös mit meinem Bein wippen. Ich konnte mich gerade so davon abbringen, die Finger ineinander zu winden.
Ich hatte es Kian auch nicht leicht gemacht. Nachdem er mir überlassen hatte, wie wir mit unserem Besuch umgehen sollten, hatte ich nach einiger Überlegung entschieden, dass ich diese Leute auf jeden Fall treffen sollte.
Allein schon, weil Yadier mich bereits gesehen hatte, und er meine Anwesenheit wahrscheinlich erwartete. Da käme es mir falsch vor, mich zu verstecken und Kian und seinen Vater vorzuschicken, um die Sache für mich zu regeln.
Kian war von der Idee nicht ganz so überzeugt gewesen. Er fand die Vorstellung nicht sonderlich schön, dass die Abgesandten mich kennenlernten. Er befürchtete, sie könnten (ich zitiere) "auf den Geschmack kommen". Er hatte einfach Sorge, dass wir mit solchen Besuchen regelmäßig rechnen müssten, wenn wir uns einmal zeigten.

Ich machte mir vielmehr Gedanken, dass die Herrschaften das bestimmt nicht toll fänden, wenn ich einfach nicht aufkreuzte, obwohl ich der Grund war, warum sie Sellwyll überhaupt besuchten. Und ich hatte nicht vor, mir noch mehr Feinde zu machen. Es reichte schon aus, dass ich jeden Abend aufs Neue ein ungutes Gefühl verspürte, kurz bevor ich einschlafen konnte.
Immerhin hatten meine Alpträume aufgehört. Zuerst hatte ich mich darüber sehr gefreut. Endlich mal wieder eine ruhige Nacht zu haben, war wundervoll. Dann hatte ich ein bisschen mehr darüber nachgedacht und mir war klar geworden, dass ich wochenlang, bevor mich der Vampir nachts quasi angegriffen hatte, bereits davon geträumt hatte. Um ehrlich zu sein, fand ich das ein wenig gruselig. Es war eines, ein Feuer auf seiner Hand zu erschaffen, aber etwas ganz anderes, von etwas zu träumen, was in der Zukunft geschah.
Ich gab mir Mühe, nicht zu viel daran zu denken. Vielleicht war es einfach nur Zufall. Obwohl ich das stark bezweifelte.

"Wir sind gleich da", warnte Kian mich vor. "Soweit ich weiß, sind sie erst seit einigen Minuten da. Wahrscheinlich reden sie zuerst mit meinem Vater, der die Verantwortung für dich trägt, weil er dich bei sich aufgenommen."
Ein schlechtes Gewissen überfiel mich. Ich zerstörte das Vertrauen, das Rick in mich hegte, um mich selbst zu retten. Das Geringste, was ich tun konnte, war zu verhindern, dass er die Schuld für meine Täuschungen trug.
"Danach wollen sie bestimmt mit mir reden. Und nach mir kommst du dann dazu. Keine Sorge, ich werde immer dabei sein."
"Und bis dahin verkrieche ich mich in einem Zimmer?", hakte ich skeptisch nach.
Kian schmunzelte leicht. "Wenn du die Herrschaften nicht gerade verärgern willst, indem du ihre Regeln brichst, dann ja."
"Ihr seid ganz schön empfindlich, hat euch das mal jemand gesagt?"
"Ständig. Aber wir sind dafür bekannt. Ist quasi unser Markenzeichen. Und ich befürchte, daran wird sich so schnell auch nichts mehr ändern."
Gut, dann würde ich eben mitspielen. Zumindest solange mir nicht langweilig wurde.

Kian parkte vor dem Herrenhaus, hinter zwei schwarzen SUVs, die direkt vor dem Eingang geparkt waren. Ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen. Wenn ich nicht wüsste, wer drinnen auf uns wartete, würde ich denken, das FBI wäre gekommen.
Ich wollte gerade die Autotür öffnen, als Kian seine Hand auf meinem Arm legte und so meine Aufmerksamkeit forderte. Fragend sah ich ihn an.
"Sobald wir das Haus betreten, musst du davon ausgehen, dass jeder alles hören kann, was du sagst oder tust. Es wäre also besser, wenn wir nicht herumposaunen, dass wir vorhaben, das Königshaus anzulügen."
"Das kriegen wir hin", meinte ich optimistisch. So schwer konnte das doch nicht sein. Ich musste nur ein paar Werwölfe in Menschengestalt anlügen, dass ich mich - so wie sie auch - in einen pelzigen Wolf verwandeln konnte, und keine Hexe war, die Feuer und Wasser bändigen und scheinbar auch in die Zukunft sehen konnte.
Das würde ein Kinderspiel werden.

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Das Haus zu betreten, ließ ein Prickeln meinen Rücken hinab laufen. Als wollte mir mein Instinkt sagen, dass das hier keine gute Idee war. Das wusste ich auch so. Dennoch musste ich es hinter mich bringen. Mit etwas Glück enttarnte ich mich als erstklassige Lügnerin und würde nie mehr von den Leuten hören, die unbedingt sichergehen wollten, dass ich mich nicht zu Unrecht in eine ihrer Gemeinden geschmuggelt hatte.
Ich ließ mich von Kian an die Hand nehmen und nach oben führen. Als wir an der Küche vorbeikamen, bevor wir die Treppe nach oben nahmen, konnte ich bereits Stimmen aus dem Wohnzimmer murmeln hören. Stimmen, die sofort verstummten, als wir am geschlossenen Wohnzimmer vorbei gingen. Da hatte wohl jemand Angst, hier könnten Geheimnisse ausgeplaudert werden.
Kian sah über seine Schulter, während wir über den Flur im Obergeschoss gingen. "Man hat unsere Anwesenheit bemerkt."
Ich schluckte schwer, als ich begriff, dass alles, was ich jetzt sagte, nicht nur Kians Ohren finden würde. Deswegen beschränkte ich meine Antwort auf ein einfaches "Ich weiß".

Ich wusste nicht, wohin mich Kian führen wollte, aber sein Plan wurde wohl unterbrochen, denn er kam abrupt zum Stehen. Ich sah an ihm vorbei und erwartete schon, mitten auf dem Gang eine Leiche zu sehen, um mir sein komisches Verhalten erklären zu können. Da war aber nur Leere.
Mit zusammengepressten Lippen drehte sich Kian zu mir herum. "Ich soll im Wohnzimmer zu ihnen stoßen."
"Jetzt schon?" Die Frage entwich mir. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, nachzufragen, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
Er nickte. "Ich werde dich holen kommen."
Jetzt wurde ich furchtbar nervös. Warum fühlte sich das alles nicht richtig an? Warum kam ich mir vor wie ein Schaf, das gleich auf eine Lichtung voller Wölfe geführt wurde? Am liebsten würde ich wieder fahren.
Mir war meine Aufregung wohl deutlich anzusehen. An Kians Gesichtsausdruck konnte ich sehen, wie schwer es ihm fiel, mir keine aufmunternden Worte zuzusprechen. Aber er musste nach unten. Stattdessen begnügte er sich damit, mir einen Kuss auf die Wange zu geben.

Der brachte mich glücklicherweise so aus der Fassung, dass ich erst begriff, dass Kian weg war, als ich schon lange allein im Flur stand. Ein Lächeln zog auf meine Lippen. Mit ihm an meiner Seite würde ich das schon hinkriegen.
Auf der Suche nach Kians Zimmern stieß ich die erstbeste Tür auf und fand ein Arbeitszimmer. Dummerweise hatte Kian mir damals bei seiner Hausführung nur das Untergeschoss zeigen können, sodass ich jetzt blind umher tappte. Bis auf einiger Blätter, die auf einem Schreibtisch lagen, sah der Raum recht aufgeräumt aus. Er hatte eine breite Fensterfront, von der aus man den Vorplatz des Herrenhauses sehen konnte.
Ich konnte meine Neugierde nicht unterdrücken und ging auf den Schreibtisch zu. Vielleicht konnte ich ja einen Blick auf das erhaschen, mit dem Kian so viele Stunden seines Lebens verbrachte.
Erst, als ich mehrere Dokumente erblickte, die alle von Rick unterschrieben worden waren, und das Foto sah, das in einem Regal hinter dem Schreibtisch stand und den jungen Kian, ein mir fremdes Mädchen und seine Eltern zeigte, verstand ich, dass das hier nicht Kians Arbeitszimmer war. Es war Ricks.

Ich entfernte mich rasch vom Schreibtisch, als ich aus dem Augenwinkel eine Handschrift erkannte, die mir sehr bekannt vorkam. Ich trat näher und sah so ungefähr sechs Blätter, die durcheinander geworfen in der Ecke des Schreibtisches lagen. Als hätte sie sich jemand durchgelesen, bevor die Person in Eile das Zimmer verlassen musste.
Aber das war es nicht, was mich so daran verwirrte. Es war die Tatsache, dass das hier Eduard Schöffs Handschrift war. Der Mann, der seinen Weg zum Dasein als Hexer dokumentiert hatte und dessen Ur-Ur-Urenkel mir sein Tagebuch überhaupt erst zur Verfügung gestellt hatte. Das hier waren die fehlenden Seite, die ich so dringend gebraucht hatte. Auf denen die Antwort auf meine Frage stand, was ich denn war.
Warum zum Teufel also besaß Rick diese Blätter? Und warum hatte er sie sich erst kürzlich durchgelesen?

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt