•fünfzig•

351 25 7
                                    

"Steig bitte ins Auto."
Kian und ich standen uns neben seinem Auto gegenüber. Ich hatte meine Kapuze tief in mein Gesicht gezogen. Mein Kopf war dadurch aber auch das einzige, was an meinem Körper nicht vom Regen durchnässt wurde.
Wir hatten uns wie jeden Nachmittag auf der Wiese getroffen, um zu üben. Nach nur wenigen Minuten allerdings begann es so stark zu regnen, dass wir unser Training abbrechen mussten. Da wir weder zu Kian noch zu mir nach Hause konnten, um unsere Übungen dort fortzusetzen, mussten wir unser Training heute wohl vollständig ausfallen lassen.
Gerade versuchte Kian mich davon zu überzeugen, ihn mich nach Hause fahren zu lassen. Im Grunde genommen hatte ich nichts dagegen. Ich war schon jetzt so durchnässt, dass ich bereits von Glück sprechen konnte, wenn ich mir keine Erkältung hiervon holte.
Bei dem Gedanken daran, mit ihm in einem so engen Raum zu verweilen, lief mir allerdings ein warmer Schauer über den Rücken. Das hielt ich für keine gute Idee.

Unser Verhältnis war auch so schon angespannt genug. Das Schlimmste an unserer derzeitigen Situation für mich war aber schon fast, wie viel Verständnis Kian hatte. Er drängte mich zu nichts. Ließ mir den Freiraum und die Zeit, die ich mir nehmen wollte. Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, Abstand zu mir zu halten, wenn es das war, was ich wollte.
Und das fand ich nervig. Natürlich wusste ich, dass ich wie eine Bekloppte klingen musste. Aber ich fand es beinahe unmenschlich, wie viel Geduld der Typ an den Tag legen konnte. Ich beschränkte mich auf ein einfaches "Hallo", das ich ihm jeden Tag sagte, dann entgegnete er es. Ich ignorierte ihn einfach so einen ganzen Tag, auch damit hatte er kein Problem. Ich gab das Tempo vor und er hatte nicht die geringste Schwierigkeit, sich mir anzupassen.
Konnte ich nicht mit einem weniger verständnisvollen Kerl Streit haben? Dann würde es mir zumindest leichter fallen, ihn zu hassen und immer Abstand von ihm zu wollen.
So jedoch hatte ich das Gefühl, dass exakt das Gegenteil eintraf. Mit jedem Meter, den wir uns voneinander entfernten und jedem Lächeln, das Kian mir zuwarf, als würde ihm das alles überhaupt nichts ausmachen, wuchs mein Bedürfnis, in seine Arme zu fallen.

"Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist", teilte ich ihm wahrheitsgemäß mit.
Kian blickte mich unbeeindruckt an. Im Gegensatz zu mir besaß er keine Kapuze. Seine Haare klebten auf seiner Stirn, doch das schien ihn nicht weiter zu stören. "Willst du lieber zu Fuß gehen?"
Normalerweise liebte ich meine Spaziergänge. Auch ein bisschen Nieselregen konnte mir die Freude daran nicht verderben. Doch das hier war schon lange nicht mehr nur ein bisschen Regen. Was eigentlich dafür sprechen würde, endlich ins warme, trockene Auto zu steigen.
Aber ich wollte mich nicht der unangenehmen Stille aussetzen, die zweifelsohne darauf folgen würde. Auf diese langen Minuten, in denen man sich fragte, wer, was und ob man etwas sagen sollte, konnte ich gerne verzichten.
"Kann mich nicht jemand anderes fahren?" Ich blickte mich um, in dem Wissen, dass wir vollkommen alleine waren. Natürlich könnte ich hier einfach warten, bis mich jemand abholen konnte, aber in der Zeit hätte ich auch zu Fuß gehen können und die Fragen, weshalb ich mich denn überhaupt hier aufhielt, würde ich mir gerne ersparen.
"Bin ich das Problem?" Es lag ein wenig Überraschung in seiner Stimme. "Soll ich jemand anderes schicken, damit er dich abholt?"

Beinahe hätte ich über seine Frage gelacht, bis ich realisierte, dass er sie vollkommen ernst meinte. Irgendwie zweifelte ich nicht einmal daran, dass er mit mir in der Kälte und im Regen warten würde, bis besagter Jemand mich abholen käme. Auch dass seine Kleidung mittlerweile wie eine zweite Haut an seinem Körper klebte und er zweifellos frieren musste, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Er diskutierte unermüdlich mit mir darüber, ob er mich nach Hause fahren durfte.
Ich seufzte schwer, als mir bewusst wurde, dass Kian schon wieder so unglaublich verständnisvoll, nachsichtig und geduldig war. Ich gab ihm keine Antwort, sondern ging einfach an ihm vorbei und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Das war Kian Antwort genug. Kurz danach saß er auf seinem Sitz und fuhr los. Er hakte nicht nach, warum ich mich letztlich doch für ihn als Fahrer entschieden hatte. Er wollte auch nicht wissen, warum ich überhaupt ein so großes Drama aus der Autofahrt gemacht hatte.
Erneut respektierte er einfach meine Entscheidungen, ohne sie groß zu hinterfragen.

Ich verstand es nicht. Wie konnte er immer genau das Richtige tun und sagen? Für jemanden wie mich, die sich ab und zu nicht unter Kontrolle hatte, Entscheidungen traf, die zweifelhaft waren und auch mal grundlos gereizt und fies zu anderen sein konnte, war das unverständlich. Er konnte doch nicht immer so sein.
Nach sieben Minuten hielt ich es nicht mehr aus. "Wie kannst du bloß so verständnisvoll sein?", platzte es aus mir heraus.
Kian warf mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich näher erläuterte: "Meinetwegen stehst du minutenlang im Regen, nur damit ich mich dann doch für die erste und einfachste Option entscheide. Ich bin diejenige, die spontan entscheidet, wie ich mich dir gegenüber heute verhalte. Doch auch damit scheinst du kein Problem zu haben. Stattdessen bist du immer nett und zuvorkommend. Als würden dir deine eigenen Gefühle nie in den Weg kommen."
Er dachte nicht lange nach, bevor er mir antwortete: "Ich bin eine harmonische Person. Ich mag es, wenn die Leute um mich herum glücklich sind. Abgesehen davon kann ich verstehen, warum du dich so mir gegenüber verhältst. Warum also sollte ich anders reagieren, wenn ich deine Handlungen absolut nachvollziehen kann?"

"Ich-" Ich stockte. Darauf wusste ich nichts zu sagen. Es klang richtig, was er sagte. Es klang gesund. Wie eine gesunde Lebenseinstellung.
"Also ist das für dich okay?" Bei das deutete ich zwischen uns hin und her. "Du hast keine Schwierigkeiten damit, dass es komisch zwischen uns ist? Dass sich einiges zwischen uns zum Negativen verändert hat? Und der Grund dafür, warum das für dich annehmbar ist, ist einfach der, dass es das ist, was ich will?"
"So wie du es sagst, klingt es, als wäre es völlig absurd, dass ich möchte, dass du deinen Willen bekommst."
Schon wieder hatte ich keinen Schimmer, was ich darauf erwidern sollte. Wahrscheinlich hatte er recht und ich führte mich wie eine Verrückte auf.
Ich richtete meinen Blick auf das Fenster neben mir. "Keine Ahnung. Ich bin einfach durch den Wind", erklärte ich mich. "Erst meine Kräfte, dann mein Dad, dann Jeremy, dann du. Ist nur alles ein bisschen viel."
"Was ist mit Jeremy?" Kians Stimme war plötzlich fest und ernst. Er war innerhalb von Sekunden in seinen Alpha-Nachfolger-Tonfall gewechselt.

"Nichts besonderes", beeilte ich mich, unser Treffen niederzumachen. "Wir haben uns im Schulflur getroffen und kurz miteinander gesprochen. Das war's. Danach habe ich ihn nicht noch einmal gesehen."
Kian runzelte die Stirn. "Ich habe nicht gewusst, dass er wieder in der Stadt ist." Nachdenklich strich er mit seinem Daumen über das Lenkrad. Die Bewegung war stetig, als folgte sie einem Rhythmus, den nur er kannte.
Wortlos fuhr er mich weiter nach Hause. Er blieb aber in Gedanken, das konnte ich ihm ansehen.
"Schön zu sehen, dass es etwas gibt, das dich mitnimmt", murmelte ich leise und meinte es ernst. Auch wenn es nach einer gesunden Lebenseinstellung klang, konnte es nicht vernünftig sein, alles mit einem Lächeln im Gesicht anzunehmen.
Kian fasste meinen Kommentar allerdings falsch auf. "Ich glaube, ich muss hier mal etwas klarstellen. Wenn du wirklich der Meinung bist, dass mir der Abstand zwischen uns gefällt, dann muss ich dir leider mitteilen, dass du falsch liegst. Es macht mir keinen Spaß, nicht mit dir reden zu können. Ich habe keine Freude daran, dich nur aus der Ferne beobachten zu können. Ich bin nicht glücklich, wenn ich sehe, wie du andere Personen anlächelst, mich aber nur mit der Ausdruckslosigkeit bedachst, die du so gut beherrscht."

Mir war nie aufgefallen, dass ich ihn so angesehen hatte.
Aber er war noch nicht fertig. "Ich finde keinen Gefallen daran, dass wir von Ich bin kurz davor, dich küssen zu können zu Wir sind Fremde gewechselt sind. Aber ich finde mich damit ab. Weil du das so willst. Weil du das brauchst. Und ja, das verstehe ich. Es muss mir nicht gefallen. Das tut es auch keinesfalls. Danach fragt aber keiner. Meine Gefühle sind egal, denn sie können nicht dem im Weg stehen, was du möchtest." Er warf mir einen mitleidigen Blick zu und versuchte sich an einem Lächeln. "Ich habe es dir schon einmal gesagt und ich werde es dir immer wieder sagen: Deine Entscheidungen stehen für mich an erster Stelle. Egal, ob sie mir gefallen oder nicht. Aber bitte, denke nicht, dass ich so handle, wie ich es tue, weil mir das hier egal ist. Denn das ist es nicht. Jede Minute, die ich nicht neben dir verbringen kann, schmerzt mir. Es gibt nichts, was ich mir sehnlicher wünsche, als dich lächeln zu sehen. Wie du mich anlächelst, weil du glücklich bist." Er stockte kurz. "Ich werde mir etwas wegen Jeremy einfallen lassen. Wenn es sein muss, lasse ich mir für jeden einen Plan einfallen, der dir schaden möchte. Und wenn du das willst, dann tue ich das auch aus der Ferne. Aber glaube nicht, dass mir unser jetziges Verhältnis gefällt. Ich werde mich damit abfinden, wenn ich muss. Aber wisse, dass ich immer mehr wollen werde."

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt