•fünfunddreißig•

379 30 3
                                    

Ich traute meinen Augen nicht. Wölfe. Ich sah Wölfe. Fast ein Dutzend Wölfe, die auf dem Vorplatz herum tollten. Besser konnte ich es nicht beschreiben. Zwei der Tiere rollten sich auf dem Boden, was mich sehr an Cody erinnerte. Der verhielt sich ähnlich, wenn er spielen wollte. Die anderen saßen entweder auf dem Boden und fixierten mich oder aber liefen hin und her, als hätten sie einen dringenden Bewegungsdrang.
Ein hellbrauner Wolf, der einen dunklen Fleck auf seinem Kopf hatte, beobachtete mich besonders intensiv. Deswegen verwunderte es mich auch nicht, als er plötzlich auf mich zukam.
Wie von selbst ging ich einen Schritt zurück. Wir spielten das gleiche Prozedere noch zwei Mal durch, bevor der Wolf stehen blieb und den Kopf schief legte. Dadurch wirkte es, als könnte er meine Reaktion nicht nachvollziehen.

Er erschien mir beinahe... harmlos. Ein Blick auf die anderen Wölfe verriet mir, dass ich bei ihnen dasselbe Gefühl hatte. Von ihnen ging merkwürdigerweise keine Gefahr aus.
Im nächsten Moment zweifelte ich an mir selbst. Ich war quasi Angesicht zu Angesicht mit sieben, acht, neun Wölfen und empfand keine Furcht. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung mit mir.
Vielleicht lag es auch daran, dass mir das defensive Verhalten der Tiere von Cody bekannt vorkam. Er wollte mir auch nicht wehtun.
Allerdings war der auch ein Hund und kein verdammter Wolf! Wo kamen diese Tiere überhaupt her?!
Ich ließ meinen Blick erneut über sie schweifen. Sie starrten mich nun alle abwartend an.
Neun Tiere. Und meine Freunde waren merkwürdigerweise unauffindbar. Ich brauchte länger als mein Gehirn, um zu verarbeiten, was ich schon längst hätte verstehen sollen.

Neun Wölfe, die nur kurz nach meinem Verschwinden plötzlich anstelle meiner neun Freunde vor mir standen.
Ich legte den Kopf in den Nacken, sodass mir der Vollmond hell ins Gesicht strahlte.
Sie trafen sich immer bei Vollmond. Alle zusammen. Ich dachte an Remus Lupin und den dritten Teil der Harry-Potter-Reihe. Der hatte sich bei Vollmond verwandelt. In einen Wolf. Was ihn zu einem Werwolf machte.
"Heilige Scheiße", flüsterte ich fassungslos.
Die Erkenntnis, dass die Wölfe vor mir eigentlich meine Freunde waren und sie nicht den Anschein machten, als wollten sie mich angreifen, machte mich mutig. Langsam stieg ich die Stufen zum Herrenhaus hinunter. Während ich mich vorsichtigen Schrittes den Wölfen weiter annäherte, erinnerte ich mich an den Artikel, den ich vor einiger Zeit im Internet gefunden hatte. Er handelte von Tieren wie auch Menschen, die innerhalb von ungefähr dreißig Jahren auf mysteriöse Weise getötet worden waren. Sie waren gerissen worden, erinnerte ich mich. Wie es bei Wölfen der Fall war.
Kein Wunder, dass diese Stadt so gefährlich war, bei dem hohen Anteil an Wölfen, die hier offensichtlich lebten.

Aber warum hatten sich meine Freunde dann so gefreut, als ich ihnen erzählt hatte, ich wäre wie sie. Hatten sie etwa geschlussfolgert, ich wäre ebenfalls ein... Werwolf? Wahrscheinlich ja. So wie ich auch logisch kombiniert hatte, dass alle in meinem Umfeld Hexen wären. Ich verkniff mir ein Lachen angesichts dieser dummen Schlussfolgerungen auf beiden Seiten.
Vermutlich sahen mich meine Freunde aus ihren Augen, die alle einen gelblichen Stich hatten, wie mir von Nahem auffiel, deshalb so ungeduldig an. Sie warteten, dass ich mich auch verwandelte.
"Ich glaube, hier liegt ein kleines Missverständnis vor", gab ich ihnen zu verstehen und wagte mich weiter vor, bis ich in ihrer Mitte stand. "Ich kann mich jedenfalls nicht in einen Wolf verwandeln."
Meine Offenbarung sorgte dafür, dass sich die Wölfe untereinander Blicke zuwarfen.
Der von ihnen, der sich mir rasch angenähert hatte, kam noch einige Schritte auf mich zu. Obwohl ich wusste, wer sie waren, fühlte ich mich nicht gerade geborgen. Wer wusste schon, ob sich meine Freunde wegen des Vollmonds anders verhielten als sonst?
Vermutlich war das also mein Überlebensinstinkt, der sich meldete. Denn trotz der defensiven Haltung waren das hier immer noch gefährliche Tiere.
Und sie waren nicht mein Wolf. Also eigentlich war er ja nicht mein Wolf, aber wäre er hier, würde ich mich wenigstens wohl fühlen. Bei ihm wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass er mich beschützen würde. So wie er es in den letzten Nächten stets getan hatte.

Ich fragte mich währenddessen, wer in meinem Umfeld ebenfalls ein Werwolf war. Ich stolperte über meinen Sprachgebrauch des Wortes "Werwolf". Befand ich mich etwa in einer Real-Life-Version des Filmes "Twilight"? Mein dreizehnjähriges Ich hätte sich wahrscheinlich nichts Schöneres vorstellen können. Zwischen Edward und Jacob gefangen zu sein. Vor vier Jahren war ich mir allerdings auch noch nicht der Gefahren bewusst gewesen, die dieses ach so verzückende Leben mit sich bringen würde.
Ob mein Vater auch ein Werwolf war? Höchstwahrscheinlich. Wie sonst könnte ich mir erklären, dass er stets von einer Verwandlung gesprochen hatte? Er war scheinbar davon ausgegangen, ich würde zum Werwolf mutieren. Ob er auch wusste, dass meine Mum eine Hexe gewesen war? Hätte er dann immer noch felsenfest davon ausgehen können, ich wäre ein Werwolf? Vielleicht schon, wenn ich meine Antwort in der Genetik fand. Wenn das Werwolf-Gen in mir eigentlich dominant wäre, dann wäre es verständlich, dass mein Vater erwarten würde, ich wäre wie er.

Amüsiert stellte ich fest, wie gut ich darin war, mich von der eigentlichen Problematik abzulenken. Wahrscheinlich weil ich sie noch immer nicht wahrhaben konnte. Aber wenn ich die Fakten betrachtete, musste ich folgendes feststellen: Keiner meiner Elternteile war menschlich. Alle meine Freunde waren Werwölfe. Es gab Werwölfe! Ich musste damit rechnen, dass keiner in meinem Umfeld so wie ich war.
Mit Ausnahme von Mr. Schöff. Der Mann, der mir geholfen hatte, herauszufinden, wer ich war. Er hatte es gewusst. Vielleicht konnte er mir helfen und Antworten auf meine Fragen geben.
Denn meine Freunde konnten es ganz offensichtlich nicht. Nicht, weil sie gerade Wölfe waren und deshalb offensichtlich nicht reden konnten, sondern auch weil sie ratlos in der Gegend umhersahen. Als wüssten sie nicht, was sie mit der Neuigkeit anfangen sollten, dass wir uns nicht ähnlich waren. Dass ich eine Hexe war, obwohl sie das nicht wissen konnten.
Mir erging es ähnlich. Denn für mich bedeutete es, dass ich mit meiner Suche wieder am Anfang war. Meine gefundene Hoffnung zerschellte lautlos am Boden, während ich mich verloren zwischen neun Wölfen befand und der Vollmond mir dieses Mal tröstliches Licht spendete. Fast schon, als täte ich ihm leid.

¤¤¤

Ich bin übrigens gerade im Urlaub im Süden Europas, hier ist es sehr warm🥵
Ich muss mal sehen, inwieweit ich es schaffe, in der nächsten Woche etwas hochzuladen😶 Ich geb mir aber Mühe, dass ich es schaffe. Schließlich müssen wir noch herausfinden, wo Kian ist 🤫

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt