•einundfünfzig•

331 22 0
                                    

Kian

Ich unterdrückte ein Gähnen. Zumindest versuchte ich es. Letztlich obsiegte aber meine Müdigkeit. Dennoch legte ich den Stift in meiner Hand nicht beiseite. Mittlerweile kannte ich das Prozedere schon. Meinen Körper verlangte es nach Schlaf. Ich gab ihm nach und legte mich hin. Doch der Schlaf fand mich nicht. Es war mir nicht möglich, einzuschlafen. Manchmal nickte ich abends während der Arbeit ein, doch nach einer halben Stunde wachte ich stets wieder auf.
Ich hatte alles ausprobiert. Tee, Meditation, sogar Wölfchenzählen. Alles erfolglos. Es war nicht so, dass ich mich im Laufe des Tages nicht auspowerte. Ganz im Gegenteil. Ich stand früh auf, um zur Schule zu gehen, verbrachte dort acht Stunden und traf mich dann mit Lilith. Später aß ich mit meinen Eltern, wobei unser gemeinsames Abendessen auch nicht mehr das war, was es einst zu sein pflegte. Zwischen meinem Dad und mir herrschte zu viel Unausgesprochenes.

Ich glaubte, zu spüren, dass er stolz auf mich war. Nicht nur, weil ich mich so ausgiebig mit meiner Arbeit beschäftigte, sondern auch weil ich unübersehbare Fortschritte in meiner Ausbildung machte. Allein, dass ich ihn und seinen Stellvertreter dazu gebracht hatte, meinem Willen zu folgen, war dessen Beweis genug. Allerdings war das auch Grund unserer Anspannungen.
Denn natürlich hatte ich damit eine Grenze überschritten. Dad war nicht nur mein Vater. Er war immer noch mein Alpha. Und den Respekt, den ich ihm eigentlich gegenüber bringen sollte, hatte ich mit dieser Aktion mit Füßen getreten.

Da ich also im hellen Tageslicht keine Zeit hatte, meinen Pflichten nachzukommen, widmete ich mich diesem Bereich meines Lebens am Abend. Bis spät in den Abend hinein lenkte ich mich damit ab. Doch wenn die Zeit gekommen war, den Stift beiseite zu legen und endlich meinen wohlverdienten Schlaf zu bekommen, blieb ich genau dort erfolglos. Ich konnte einfach nicht einschlafen. Und da ich die Zeit nicht anders zu überbrücken wusste, stürzte ich mich Hals über Kopf weiter in meine Arbeit. Das hatte zur Folge, dass ich unglaublich viel schaffte. Aber mein Körper zehrte auch davon. Meine Schlaflosigkeit half mir nicht gerade, die Energie zu sammeln, die ich brauchte. Aber was konnte ich schon anderes tun, als mich abzulenken, wenn ich einfach nicht zur Ruhe kommen konnte?
Widmete ich mich nicht bis zum Umfallen meiner Arbeit, gingen meine Gedanken in Richtungen, in die ich mich nicht bewegen wollte. Zwischen Jeremy, den Vampiren generell, meinem Vater, John, dem Königshaus und Lilith, die den Mittelpunkt des Spinnennetzes bildete, das alle anderen Komponenten vereinigte, wurde ich noch irre. Ich tat mir selbst also eigentlich nur einen Gefallen, wenn ich mich dazu brachte, nicht darüber nachzudenken.

Denn wenn ich es tat, konnte ich mir auf zu viele Dinge einfach keinen Reim bilden. Was wollte Jeremy wirklich von Lilith? Hatte es tatsächlich nur mit seinem Anführer zu tun? Und was wollte der von Lilith? Er musste wissen, dass sie in ihren Fähigkeiten noch nicht sehr geübt war. Das schien ihn aber nicht davon abzuhalten, zu versuchen, sie mit allen Mitteln für sich zu gewinnen. Außerdem fragte ich mich unerlässlich, was die Vampire mit der Information tun würden, dass Lilith eine Hexe war. Ich war mir beinahe sicher, dass sie sich im Klaren darüber waren, dass sonst keiner wusste, was Lilith wirklich war. Wären sie klug und würden dieses Geheimnis für sich nutzen, könnten sie zweifelsohne eine Menge Probleme für die Werwölfe bedeuten. Angefangen damit, dass wir dem Königshaus vorbehalten hatten, für wessen Schutz wir tatsächlich sorgten. Es würde nicht lange dauern, bis herauskäme, wer für diesen Vertrauensbruch verantwortlich war, und dann steckte ich mit Sicherheit ordentlich in der Scheiße.
Glücklicherweise war bisher noch nichts von dem eingetroffen, weshalb ich mich noch nicht damit auseinandersetzte. Es gab genügend anderes, das meine Aufmerksamkeit verlangte.

Beispielsweise John und das Gespräch, das zwischen ihm und mir sicherlich noch folgen würde. Auch wenn er bisher noch nicht mit mir darüber gesprochen hatte, ging ich davon aus, dass er nicht vergessen hatte, was er zwischen mir und seiner Tochter vermutete. Und da Liliths Vater nicht gerade über das Talent verfügte, zu entscheiden, wann er sich in etwas einmischen sollte, würde er sich höchstwahrscheinlich irgendwann noch einmal das Recht herausnehmen, von mir Antworten zu verlangen.
Ich vermutete stark, dass er diesen Schritt bisher noch nicht gegangen war, weil ich in den letzten Tage nicht gerade Freude und Offenheit in seiner Gegenwart versprüht hatte. Bei meinem Dad war es wohl ähnlich. Man musste schon blind sein, um zu übersehen, dass ich in letzter Zeit nicht gerade mit der besten Laune gesegnet worden war. Wobei mich meine Übellaunigkeit häufig auch erst dann überwältigte, wenn ich von meinem Training mit Lilith wiederkehrte.
Dennoch war mein Wandel auch an meinen Freunden nicht vorübergegangen. Allerdings hatten alle die kluge Entscheidung getroffen, sich nicht in Liliths und meine Angelegenheiten einzumischen. Zwar hatte ich nie offen zugegeben, dass es das war, was mir zusetzte, doch sie hatten deutlich gemacht, dass es ziemlich offensichtlich wäre, dass sich die Dinge zwischen uns verändert hatten.

Meine Freunde mischten sich zwar nicht ein, aber sie gaben mir trotzdem das Gefühl, ein offenes Ohr für mich zu haben, wofür ich ihnen umso dankbarer war. Erst vorhin hatte Rafe bei mir angerufen und gefragt, wie es mir so ginge und ob ich darüber reden wollte. Ich hatte gewusst, was er von mir wollte, auch ohne dass er es extra aussprach. Doch ich nutzte die Gelegenheit, die sich mir bot, um alles andere loszuwerden, was mir gerade zusetzte. Ich sprach über meine Arbeit und die Schule. Ich offenbarte sogar ein wenig über die Spannungen zwischen mir und meinem Vater sowie John. Es war zwar nicht das, was mich derzeit am meisten beschäftigte, aber dennoch half es mir. Es war mal eine andere Ablenkung als die Arbeit. Und Rafes Ratschläge gaben mir zudem noch eine andere Sicht auf die Dinge. Nach unserem Telefonat besserte sich meine Laune und ich war umso dankbarer für meine Freunde.

Ich rieb mir die Augen, die mir immer häufiger zufielen. Die Vorstellung, kurz den Kopf auf den Tisch zu legen und die halbe Stunde Schlaf zu nutzen, wurde umso verführerischer.
Doch ein Klopfen an meiner Tür hielt mich davon ab. Ich stand auf und bewegte meine müden Beine zur Tür. Davor stand mein Vater. Wortlos registrierte er meine müden Augen, den angespannten Zug um meinen Mund und die angeschaltete Schreibtischlampe hinter mir. Es brauchte nicht viel, um darauf zu schließen, womit ich meine Nächte verbrachte.
Aber er sagte nichts dazu. Wahrscheinlich konnte er sich nicht entscheiden, ob es gut war, dass ich als sein Nachfolger meine Pflichten sehr ernst nahm, aber als sein Sohn eine ungesunde Menge an Arbeit in mich reinschaufelte.
Stattdessen räusperte er sich und übergab mir einen Briefumschlag.
"Ich dachte, das würde dich vielleicht interessieren. Vor allem weil es um sie geht." Sein Blick lag noch kurz auf dem Brief, bevor er ihn in meine Hände legte. Er schenkte mir ein leichtes Lächeln, bevor er sich abwandte.
Ich kam nicht dazu, mich zu fragen, warum er nicht noch mehr gesagt hatte oder warum er mir seine geheimen Briefe zum Lesen gab. Er war schon verschwunden. Ich seufzte und besah den Umschlag in meiner Hand. Er war bereits geöffnet. Ich drehte ihn, sodass ich vielleicht den Absender erkennen konnte, stockte aber mitten in der Bewegung. Das Königssiegel sah mir schon fast spöttisch entgegen.

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt