•siebenundneunzig•

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Ich bezweifelte, dass ich jemals so schnell nach Hause geeilt war. Ich stieß die Haustür auf, musste aber, sobald ich den Flur betreten hatte, erst einmal innehalten und tief Luft holen. Was sollte ich jetzt tun?
Nur weil Kian nicht zu erreichen war, musste das doch nicht zwingend bedeuten, ihm wäre etwas zugestoßen. Vielleicht hielt er sich an einem Ort auf, an dem er keinen Empfang hatte. Oder der Akku seines Handys war leer. Es gab so viele Möglichkeiten, die alle zur Folge hatten, dass ich mir keine Gedanken machen musste. Wahrscheinlich war es so. Ich hatte nur überreagiert.
Ich legte meine Jacke ab, registrierte im Augenwinkel, dass sie von ihrem Platz auf den Boden rutschte. Es konnte mir nicht weniger egal sein. Ich trottete in die Küche, wo ich Cody mit Nahrung und Wasser versorgte. Langsam ließ ich mich auf einen Küchenstuhl sinken, von wo aus ich ihm beim Essen zusah.

Und wenn meine anfängliche Sorge nun doch berechtigt war? Was, wenn ihm wirklich etwas zugestoßen war?
Kian hatte mir damals erzählt, er hätte gespürt, dass mit mir etwas nicht gestimmt hatte. Ob ich das auch konnte?
Sobald ich jedoch versuchte, in mich hinein zu horchen, kam meine Panik erneut auf und ich begann, hektisch zu atmen. So konnte das doch gar nichts werden mit dem rationalen Denken.
Ich musste mich beruhigen. Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Kaum nahm ich das Glas in die Hand, schwappte das Wasser über den Rand und lief über meine Hand. Meine Hände zitterten so stark, dass ich keine Kontrolle mehr über sie hatte. Dann machte sich ein lautes Piepen in meinen Ohren breit.

Ich schloss die Augen und ließ mich vorsichtig auf den Boden sinken, sodass ich meinen Kopf an den Schränken hinter mir anlehnen konnte. Cody legte seinen Kopf in meinem Schoß. Sein Atem blies mir sanft auf die Fingerspitzen.
Was war bloß los mit mir? Das hier hatte nichts mit den Reaktionen meines Körpers zu tun, wenn ich die Kontrolle verlor. Was gerade mit mir geschah, erinnerte mich mehr an eine Panikattacke.
Ich war mir nicht sicher, ob es eher gut oder schlecht war, dass ich gerade alleine zu Hause war. Einerseits mochte ich es nicht, wenn andere mich so schwach sahen. Andererseits konnte ich jemanden gerade gut gebrauchen, mit dem ich über meine derzeitige Lage sprechen konnte. Wenn ich aber ehrlich war, gab es nur eine Person, die ich gerade bei mir wollte. Kian.
Wo war er bloß? Ob er spüren konnte, dass es mir nicht gut ging? Warum konnte ich ihn nicht fühlen?

So verletzlich, so allein hatte ich mich bisher nur ein Mal in meinem Leben gefühlt. Es war noch gar nicht so lange her, lediglich wenige Monate.
Ich erinnerte mich nur bruchweise an diesen Nachmittag. Als hätte mein Gedächtnis versucht, mich zu schützen, indem ich diesen Tag vergaß.
Es war ein heißer Sommertag. Ich hatte seit fast drei Wochen Sommerferien und musste deshalb glücklicherweise nicht in die Schule. Allerdings war es auch so stickig und warm draußen, dass ich das Haus nicht verlassen wollte. Ich saß in meinem Zimmer auf meinem Bett und las in einem Buch, das ich gestern begonnen hatte. Cody lag neben mir.
Wir waren alleine. Mum hatte sich schon recht früh am Morgen von uns verabschiedet. Sie wollte mir nicht sagen, wohin sie musste. Doch ich vertraute ihr, weshalb es mich nicht weiter beunruhigte. Sie hatte mich zum Abschied besonders lange umarmt und mir einen Kuss auf die Wange gedrückt. Fast kam es mir so vor, als könnte ich eine Träne in ihrem Auge sehen.

Das war bereits mehrere Stunden her gewesen. Jetzt wartete ich gebannt auf ihre Rückkehr. Sie hatte mir versprochen, dass wir am Abend gemeinsam spazieren gehen wollten. Unser letzter Spaziergang war unglaublich gewesen. Zuerst hatte sie mir etwas erzählt, bevor sie leise zu singen begonnen hatte. Ich hatte das Gefühl, nicht nur ich hatte möglichst leise geatmet, um keine Silbe ihres Singens zu verpassen. Auch der Wald um uns herum war erstillt. Es war ein magischer Moment gewesen.
Mein Herz erwärmte sich, als ich daran zurückdachte. Sehnsüchtig warf ich einen Blick aus dem Fenster, wo die Sonne alles erhellte. Ich starrte eine Weile in die Natur. Bis ich in meiner Ruhe unterbrochen wurde, als meine Fenster zu knarren begannen. Ich runzelte die Stirn und richtete mich auf. Das Knarren wurde immer lauter, als versuchte ein besonders starker Wind, sich Eintritt in mein Zimmer zu verschaffen. Prompt sprang das Fenster auf und eine eisige Windböe pirschte durch mein Zimmer.

Erstaunt und verwirrt stand ich von meinem Bett auf. Dann reagierte mein Körper. Ein ohrenbetäubendes Piepen machte sich in meinen Ohren breit, bis mein Kopf nicht mehr aufhörte, zu pochen. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Am liebsten hätte ich sie abgestreift. Meine Beine begannen zuerst zu zittern. Dann meine Hände. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Doch all das war nicht das Schlimmste. Am schrecklichsten war das Gefühl in meinem Herzen. Es schmerzte so sehr. Und ich verstand nicht, warum.
Ich öffnete meine Augen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie geschlossen hatte. Erschrocken realisierte ich, dass draußen ein Sturm tobte. Die Sonne war hinter einer dichten Wolkendecke verborgen und der Regen prasselte auf den Boden nieder. Ein Blitz durchzuckte den Himmel, dicht gefolgt von einem Donnern, das seinen Anklang in mir fand. Und trotz all der Lautstärke um mich herum hörte ich klar und deutlich das Klingeln an meiner Haustür. Auf müden Beine schwankte ich zur Tür. Cody folgte mir winselnd.
Das Gefühl in meinem Herzen breitete sich aus, bis es sich tief in meinem Magen einnistete. Doch all das war vergessen, als ich die Tür öffnete und meine Oma vor mir stand. Ich wusste instinktiv, dass die Nässe auf ihren Wangen nicht vom Regen stammte. Ich wusste instinktiv, dass mein Leben nie wieder das Gleiche sein würde.

Es war der Tag gewesen, der mich für immer verändert hatte. Und es verstörte mich zutiefst, dass ich all diese Schmerzen und diese schrecklichen Gefühle gerade wieder verspürte. Fast so, als würde sich wiederholen, was an jenem Tag geschehen war. Fast so, als würde ich erneut die Person verlieren, die mir am liebsten war.
Entsetzt riss ich die Augen auf, als ich begriff. Das hier war kein Zufall. Es war nicht alles in Ordnung. Ich reagierte nicht über. Es ging Kian nicht gut. Und wenn ich jetzt nichts tat, würde der Tag ebenso enden, wie der letzte, an dem ich mich so elendig gefühlt hatte.

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Und damit bin ich endlich wieder zurück aus meiner Pause und hoffe, dass es jetzt wieder regelmäßig weitergehen kann... 😏🤭

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt