•sechsunddreißig•

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Kian

Mein Zeige- und Mittelfinger tippten abwechselnd auf den Holzschreibtisch, der mit Blick auf die Stadt in meinem Arbeitszimmer stand. Normalerweise half mir meine Aussicht, mich zu konzentrieren, da sie mich daran erinnerte, für wen ich meine Aufgaben erledigte. Heute allerdings nahm ich sie gar nicht wahr, weil ich zu fokussiert auf eine andere Problematik war. Erneut kamen meine Finger in einem gleich bleibenden Rhythmus auf das braune Holz nieder. Das Geräusch erinnerte mich daran, dass ich Wichtigeres zu tun hatte.
Dies waren jedoch nicht die mir von meinem Dad zugeteilten Aufgaben. Als er gestern einen Brief vom Königshaus erhalten hatte, hatte ein Blick in seine Augen gereicht, um zu erkennen, dass es Grund zur Sorge gab. Kaum hatte er für einige Minuten nicht auf seine Post geachtet, hatte ich mir das Dokument mit dem Siegel des Königs durchgelesen.

Jetzt saß ich hier und machte mir Gedanken darüber, wie ich eine nahende Katastrophe abwenden konnte.
Ich zweifelte nicht daran, dass mein Vater eine Lösung finden würde. Allerdings befürchtete ich, sie könnte mir nicht gefallen. Und ich war selbstsüchtig genug, einen anderen Weg zu finden.
Ich hatte gewusst, dass Yadiers Begegnung mit Lilith Konsequenzen haben würde. Doch es war dumm von mir gewesen, zu hoffen, sie wären unkompliziert.
Man wollte wissen, ob Liliths Verwandlung bereits vonstatten gegangen war. Es war zu erwarten gewesen, dass Yadier meinen Vater zu ihr ausfragen würde. Wer war sie? Was war sie? Er hatte keine Möglichkeit gehabt, zu lügen. Es hätte fatale Folgen haben können, dessen war ich mir bewusst. Dennoch hatte ich gehofft, er würde es zumindest versuchen. Denn jetzt wusste Yadier, dass Lilith mit Sicherheit kein Mensch war. Und dass sie wahrscheinlich ein Werwolf war.

Das war es, wovon alle ausgingen. Es war die einfachste Erklärung. Nach dem Vollmond am Samstag allerdings hatte sich rumgesprochen, dass sie sich nicht verwandelt hatte.
Meine Freunde hatten mich am Sonntag aufgesucht, um zu fragen, weshalb ich nicht bei ihnen gewesen war. Ich hatte ihnen ja schlecht sagen können, dass ich zu feige gewesen war, um Lilith zu offenbaren, mit wem sie ihre Zeit nachtens im Wald verbrachte. Den Moment, in dem ich ehrlich zu ihr hätte sein müssen, hatte ich schon lange verpasst.
Nachdem ich ihnen eine Ausrede aufgetischt hatte, hatten sie mich informiert, was in der Vollmondnacht passiert war. Und über die Offenbarung, die Lilith hatte machen müssen.
Ich tat überrascht, obwohl mich eher das Gegenteil verwundert hätte.
Keiner von ihnen stellte Nachfragen, als ich klarmachte, was wir den anderen Werwölfen berichten würden. Lilith hatte die Macht des Mondes gespürt, allerdings war sie noch nicht bereit gewesen, sich zu verwandeln.

Kein Wort darüber, dass sie sich nie in einen Wolf verwandeln würde. Dass sie keinesfalls so wie wir war, so, wie es alle vermuteten.
Und das durfte keiner erfahren. Vor allem nicht das Königshaus. Also musste ich so lange wie möglich die Wahrheit herauszögern.
Notfalls musste ich, um das zu erreichen, auch meinen Vater anlügen. Wenn ich ihm erzählte, dass Lilith nie ein festes Mitglied unseres Clans werden könnte, wäre es für ihn ein Grund, sie von uns zu weisen. Vollkommen verständlich, denn Werwölfe blieben unter sich. Ebenso wie Vampire, Feen, Kobolde und Hexen. Was auch der Grund dafür war, dass es leicht zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen kam.

Natürlich könnte ich einfach ehrlich zu meinem Dad sein. Ihm schlichtweg sagen, warum die Vorstellung, Lilith nicht in meiner Nähe zu wissen, für mich unerträglich war. Warum ich immer dafür kämpfen würde, dass ich bei ihr sein konnte.
Doch ich konnte nicht ehrlich über etwas sein, das ich selbst nicht verstand. Wieso teilten Lilith und ich diese Verbundenheit, wenn sie kein Werwolf war? Es war höchst untypisch für die Arten untereinander eine solche Verbindung zu teilen. Vielleicht war es sogar unmöglich, ich war mir nicht sicher.
Bevor ich nicht mit Sicherheit wusste, was zwischen uns war, konnte ich es nicht einmal mit meinen Eltern teilen. Es gab schon zu viele Unklarheiten in meinem Leben, seit Lilith dazu gekommen war. Ich konnte mir keine weitere erlauben.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt