•neunundneunzig•

182 14 2
                                    

Meine Füße führten mich zu einer alten, verlassenen Lagerhalle. Skeptisch blieb ich vor der einzigen blechernen Tür stehen und ließ meinen Blick von dort schweifen.
Hier war ich noch nie gewesen. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich erst knapp ein halbes Jahr hier lebte. Ich bezweifelte, dass hier jemals jemand war. Schon die Umgebung hatte mich vermuten lassen, dass ich mich in einem alten Industriegebiet befand.
Spätestens jetzt wusste ich, dass Kian etwas zugestoßen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er freiwillig hier hin gegangen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand freiwillig hierher käme.
Wenn mich meine Augen nicht täuschten, bestand die Wand der Halle überwiegend aus Rost. An einigen Stellen hatte sich die Natur diesen Ort bereits zurückgeholt. Es würde wohl nicht mehr lange dauern und bald wäre es unmöglich zu erkennen, dass dies jemals ein Ort gewesen war, an dem jemand gelebt oder gearbeitet hatte.

Wer ging freiwillig an diesen Ort? Zweifelsohne nur jemand, der keine Zeugen haben wollte.
Ich rümpfte die Nase. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass hinter dieser Tür eine Falle auf mich warten würde? Meine Mathelehrerin wäre stolz auf diese Überlegung. Ich kam jedoch auch nicht weiter, als diese Frage zu stellen. Eine Antwort konnte ich darauf nämlich nicht geben.
Allerdings würde mich sogar das Wissen, dass hinter dieser Tür zwanzig Gewehre auf mich gerichtet waren, nicht davon abhalten, hinein zu gehen. Ich würde Kian finden und mich davon versichern, dass es ihm gut ging. Nichts und niemand konnte mich davon abhalten.
Während ich näher auf die Tür zutrat, hinterfragte ich meine Entscheidung, niemanden mit mir genommen zu haben. Ein bisschen Unterstützung konnte mir bestimmt nicht schaden. Doch ich hatte nicht die Zeit gehabt, zu warten, bis mein Vater oder Veronica nach Hause gekommen wären. Und unsere Freunde hatte ich nicht alarmiert, weil ich mir sicher war, dass Kian das nicht wollen würde. Er würde nicht wollen, dass sie sich in Gefahr begaben. Und jetzt konnte ich an meiner Entscheidung auch nichts mehr ändern. Mein Handy lag sicher und geschützt bei mir Zuhause.

Egal. Ich brauchte niemanden, um mir zu helfen. Ich brauchte nur den Mut, diese Tür zu öffnen. Und wenn dieser mich nicht finden wollte, benötigte ich meine Liebe zu Kian und den daraus folgenden Drang, ihn zu finden.
Ich öffnete die Tür. Sie knarrte laut. Spätestens jetzt war meine Anwesenheit wohl nicht mehr zu verstecken. Allerdings ging ich davon aus, dass - wer auch immer hier auf mich wartete - nicht menschlich war und demzufolge mich schon längst bemerkt hatte.
Das Lagerhaus hatte augenscheinlich mehrere große Fenster, die den größtenteils leeren Innenraum spärlich erleuchteten. Jeder weitere Schritt, den ich ging, wurde begleitet von Regentropfen, die von meiner nassen Kleidung auf den Boden fielen.
Es fiel mir schwer, etwas in der großen Halle zu sehen. Die fehlende Sonne, die noch immer hinten dunklen Wolken verborgen war, machte es mir nicht gerade leichter.
Ich hatte wirklich keine Probleme mit meinen Augen oder Ohren. Aber gegen ein wenig verbesserte und verschärfte Sinne hätte ich gerade nichts einzuwenden. Es würde mir gerade wirklich helfen. Ich könnte kurz davor sein, über ein Rohr zu stolpern und würde es nicht bemerken.

Kurzerhand entschied ich mich dazu, dass es Blödsinn war, mich möglichst versteckt zu halten. Wie ich selbst schon festgestellt hatte, wusste, wer auch immer ebenfalls hier war, schließlich schon längst, dass er oder sie nicht alleine war.
Ich sammelte meine Energie in meiner linken Hand, bis sich eine kleine Flamme auf meiner Handfläche bildete, die ich mit einem Gedanken in die Höhe flackern ließ. Zufrieden mit meinem Werk sah ich mich um. Damit konnte ich doch arbeiten.
Ich drehte mich einmal um mich selbst.
Ein Schrei formte sich in meinem Hals, als mein Körper gegen die harte Wand geschmettert wurde.
Eine Hand packte meinen Hals, sodass kein Laut aus meinem Mund kam.
Die Reißzähne vor meinen Augen ließen mich einen Augenblick vor Angst erzittern.
Dann erkannte ich den Mann vor mir.
"Sie?!" Meine Frage kam nicht so ungläubig heraus, wie ich es gehofft hatte. Ich konnte froh sein, wenn Jeremys Boss überhaupt verstanden hatte, was ich gesagt hatte.

Der Zorn, der in seinen Augen flackerte, wurde abgelöst durch Verwirrung. Dann wurde er wieder wütend und seine Hand presste noch fester zu. Röchelnd schnappte ich nach Luft.
"Was machen Sie hier?"
Ich brauchte einige Sekunden, um seine Frage zu verstehen. Nicht nur, weil mir der nötige Sauerstoff fehlte, sondern auch, weil ich sie nicht verstand.
Er erwartete aber keine Antwort von mir. Stattdessen wandte er den Kopf und sah in die Lagerhalle in seinem Rücken.
Kleine, funkelnde Sterne formten sich vor meinen Augen. Bevor meine Augen zufielen und ich endgültig in Dunkelheit versank, griff ich mit meiner Hand nach seinem Oberarm. Dann sandte ich jegliche Hitze in meinem Körper über meine Fingerspitzen direkt auf seine Haut.
Der Vampir richtete seinen Blick auf seinen Arm. Dennoch löste er seinen Griff nicht. Doch ich ließ nicht locker. Seine Haut begann abartig zu zischen. Die Schmerzen, die er zweifelsohne spüren musste, schienen ihm dennoch nichts auszumachen.
Meine Augen wurden immer müder, bis ich nichts fühlte, außer die kontrollierte Hitze in mir, die meinen Körper von außen sengend heiß werden ließ. So heiß, dass er seine Hand mit verbissenem Gesichtsausdruck von meinem Hals riss.

Hustend sank ich in die Knie. Ich konnte gar nicht schnell genug Sauerstoff in meine Lungen bekommen.
"Wollen Sie mich umbringen?" Es würde mich nicht wundern, wenn er darauf mit Ja antworten würde. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte es geschafft.
"Weshalb sind Sie hier?", fuhr er mich an.
Ein Knacken hielt mch von einer Antwort ab. Einige Meter von mir entfernt hatten mehrere gestapelte Holzscheite Feuer gefangen. Wahrscheinlich hatte ich das Feuer auf meiner Hand verloren, als der Vampir mich ruckartig von meinem Platz gerissen hatte.
"Sie sind doch schuld, dass ich hier bin. Wo ist er?"
Seine Miene wurde steinern. "Sie sollten nicht hier sein. Vor nicht mal zwei Stunden waren Sie noch in der Stadt. Wie kommt es, dass Sie jetzt hier sind?"
"Wollen Sie mich eigentlich verarschen? Sie entführen Kian und denken, dass ich ihn nicht suchen würde?"
"Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen."
"Und ich bin der Weihnachtsmann. Ich weiß, dass er hier ist. Wo ist er? Was haben Sie mit ihm gemacht?" Erinnerungen an meine nächtliche Flucht vor ihm füllten mein Gedächtnis. Ich hatte nicht vergessen, wozu dieser Mann in der Lage war. "Ich schwöre Ihnen, dass ich Ihnen jeden Schmerz, den Sie ihm zugefügt haben, zehn Mal zurückgeben werde."

Er ging auf meine Drohung nicht ein. Stattdessen stand er still mehrere Meter von mir entfernt und beobachtete mich, als befürchtete er, ich könnte ihm jeden Moment den Kopf abreißen. Lediglich seine leicht bebenden Schultern verrieten, dass in ihm alles andere als Ruhe herrschte.
Ich runzelte die Stirn. "Sie haben wirklich nicht mit mir gerechnet", stellte ich verblüfft fest.
"Ganz im Gegenteil. Es war mir wichtig, dass Sie keinesfalls hier wären", entgegnete er mir.
Vollkommen verwirrt fragte ich mich, was ich übersehen hatte. Was entging mir gerade, das mir diese Situation verständlicher machen würde?
Ich schüttelte den Kopf. Keine Zeit für solche Gedanken. "Sagen Sie mir einfach, wo er ist und ich werde verschwinden. Dann können Sie ganz in Ruhe das machen, was Sie vorhatten."
"Sicherlich nicht. Irgendjemand spielt hier ein doppeltes Spiel und ich denke, dass Sie das sind."
"Ich?", wiederholte ich fassunglos. "Hören Sie schlecht? Ich will nichts von Ihnen, außer dass Sie mir sagen, wo Kian ist."

Der Vampir schien in seinem ganz eigenen Film abgetaucht zu sein. Er hörte mir überhaupt nicht mehr zu.
Angenervt richtete ich mich auf und ging schnurstracks zum Ende des Lagerhauses. Dort war ich bisher noch nicht gewesen. Vielleicht konnte ich etwas finden, das mir einen Hinweis auf Kians Aufenthaltsort gab. Ich wusste, dass er hier war. Ich konnte nur nicht genau ausmachen, wo er war. Vielleicht führte die große Lagerhalle in kleinere Räume und er befand sich in einem davon. Wenn der Vampir mir das nicht sagen konnte oder wollte, würde ich eben selbst nachsehen.
Ich kam allerdings nicht weit. Es dauerte keine Sekunde und der Vampir stand vor mir.
"Ich hatte mit Ihnen so gut wie abgeschlossen", informierte er mich. "Wie kann es also sein, dass Sie ausgerechnet dann auftauchen, wenn ich alles dafür tue, Ihnen nicht zu begegnen?"
"Keine Ahnung", schoss ich zurück. "Das Schicksal spielt manchmal verrückte Spiele."
"Das Schicksal ist nicht schuld daran." Seine Stimme ließ keine Widerworte zu. "Er hat mir versichert, dass Sie nicht hier wären. Das war meine Bedingung."
Völlig fertig mit den Nerven wollte ich dem Vampir aus dem Weg gehen und meinte: "Dann fragen Sie doch ihn-" Ich stockte.
Es gab nur eine Person, der ich noch zutraute, etwas hiermit zu tun zu haben.
Die Tür knarrte erneut, als eine weitere Person den Raum betrat. "Ihr habt euch schon begrüßt, wie ich sehe."

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt