•zwölf•

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Ich musterte ihn regungslos. Mit seinen blonden Haaren, die er im Nacken zusammengebunden hatte, könnte er als ganz attraktiv wahrgenommen werden. Das breite Grinsen, das mich ein wenig an den Joker erinnerte, ließ ihn dann aber doch eher wie einen Psycho erscheinen. Und waren eben jene nicht gerade fiktional, ging ich ihnen lieber aus dem Weg.
Wie praktisch für ihn, dass er mich an einem abgelegenen Ort gefunden hatte. Man könnte auch auf die Idee kommen, es sei ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns zur gleichen Zeit am gleichen Ort befanden. Sein Blick ließ mich jedoch vermuten, dass ich hier wohl nicht an Zufall glauben konnte.
"Kannst du auch reden?" Er lehnte sich mit dem Oberkörper weiter nach vorne und ließ seine oberen Zähne aufblitzen, als er zu lächeln begann. Es handelte sich hier übrigens wieder eher um das Lächeln eines Psychos. "Oder bist du einfach nur so überrascht von meinem Anblick, dass du das Sprechen verlernt hast?"
"Da du derjenige warst, der mich in Musik wortlos angestarrt hat, sollte ich wohl diejenige sein, die eine solche Frage stellt", entgegnete ich. "Abgesehen davon gibt es für mich nichts zu sagen. Meinen Namen weißt du immerhin schon, so wie offenbar jeder in dieser Stadt."

"Ich würde ja jetzt sagen, dass es sich hier um eine kleine Stadt handelt, in der jeder jeden kennt, aber das ist eher nicht der Fall." Zusätzlich zu seinem in meine Richtung gelehnten Oberkörper hob er nun den linken Zeigefinger und wanderte damit immer näher an mich heran. Ich betrachtete ihn skeptisch, während ich mir sagte, dass, käme er bis zu zehn Zentimeter an mich heran, ich ihm in den Finger beißen und in die Eier treten würde. Mit diesem Plan fühlte ich mich direkt so sicher, dass ich ihn nun entspannt zurückgelehnt betrachtete.
"Es ist eher so", fuhr er fort, "dass Neulinge sehr auffallen. Sie sind einfach so... unerfahren." Ein sehnsüchtiges Seufzen entfloh seinen Lippen. "So schmackhaft."
Diese Aussage reichte aus, um von meinem ursprünglichen Plan abzuspringen. Ich packte sein Handgelenk und stoppte ihn damit, mit seinem widerlichen, langen, knochigen Finger näher an mich heran zu gelangen.
"Tu dir selbst einen Gefallen und hör auf, mir auf die Pelle zu rücken." Ich ließ seinen Finger los, um meiner Warnung mehr Ausdruck zu verleihen.
Verwunderung machte sich auf dem Gesicht des Psychos breit, die sogar dafür sorgte, dass sein Mund zu seiner Normalform zurückkehrte. "Drohst du mir etwa?" Stattdessen brach plötzlich ein hysterisches Lachen aus ihm heraus, als würde ihn etwas wahnsinnig amüsieren.
Mir schien, wir beide teilten nicht den gleichen Humor.

"Betrachte es als Warnung." Entgegen seiner Erwartung lächelte ich ihn nun ebenfalls breit an, als würde mir unsere Unterhaltung viel Spaß bereiten. Ich würde wetten, dass ich nun mindestens so Psycho aussah wie er selbst.
Meine Reaktion verwirrte ihn. Er runzelte die Stirn und entfernte sich ein wenig von mir. Wir teilten einen langen Blickkontakt. Es schien mir, als versuchte er herauszufinden, ob ich meine irre Haltung ihm gegenüber beibehalten würde. Ich tat es.
Mit einem Gesichtsausdruck, der sagte "Diese Frau macht mir Angst", gleichzeitig aber auch bedeuten könnte "Ich mag deine Art", stand er langsam auf. Wir beide ließen uns kein einziges Mal aus den Augen, während er gemächlich rückwärts ging.
Wie sehr würde ich mir wünschen, dass plötzlich ein Stein hinter ihm auftauchte oder irgendetwas, das ihn zum Fallen brachte. Leider wurde mein Wunsch nicht erhört und meine Anspannung konnte erst gelöst werden, als der Psycho-Junge außer Sichtweite war.
Meine Mauern jedoch waren wieder hochgefahren. Ich war bereit für jede weitere Störung meiner Ruhe. Jetzt konnte ich wohl sowieso nicht mehr entspannen. Nicht nach dieser gruseligen Konversation mit diesem skurrilen Typen.

Es dauerte nicht lange und ich bekam erneut Gesellschaft. Dieses Mal war mir jene aber deutlich lieber. Wie so häufig erkannte man sowas aber erst, nachdem man einen Vergleichswert hatte.
"Oh, der Göttin sei Dank! Da bist du ja." Erleichtert tauchte Beah neben der Trinkenden auf, würdigte sie aber keines Blickes, weil sie stattdessen auf mich zugesprungen kam. Also wortwörtlich. Ich hatte das Gefühl, sie übersprang die Distanz zwischen uns einfach, um vor mir zu landen. Sorge zeichnete ihr sonst nur von Freude überzogenes Gesicht. "Geht es dir gut? Wir haben dich überall gesucht. Ich habe dir geschrieben. Ich habe dich sogar angerufen. Aber wir haben dich nicht gefunden. Ich habe total Panik bekommen. Du kennst dich hier ja noch nicht so gut aus. Du hättest dich verlaufen können. Oder wir hätten dich dann irgendwo in einer dunklen Gasse blutleer gefunden. Wer weiß, was alles hätte passieren können?" Ihre Tirade wurde von Kian unterbrochen, der ihr eine stützende Hand auf die Schulter legte, um sie zu erinnern, dass sie sich jetzt keine Gedanken mehr machen müsste. Beah holte einmal tief Luft, bevor sie nun deutlich sanfter zusammenfasste: "Was ich damit sagen will, ich bin sehr froh, dass wir dich gefunden haben und es dir gut geht. Es geht dir doch gut, oder?"
Ich musste ein wenig lächeln, als nun erneut Fürsorge in ihrem Gesicht erschien. Meine Hand legte sich auf ihre, die sie neben mir auf der Bank abgestützt hatte. "Es geht mir gut. Du hättest dir keine Sorgen machen müssen. Ich fühle mich geschmeichelt, dass du es dennoch getan hast."

Empört richtete sie sich auf und zog mich in eine Umarmung. "Aber natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Du bist meine Freundin."
Vielleicht war dieser Tag heute doch noch nicht vollkommen im Eimer.
Ich ließ mich von ihr auf die Beine ziehen. Einige der anderen fragten ebenfalls, ob es mir gut ginge. Unter anderem Cavyn, der sich auch für sein Verhalten von eben entschuldigte. Da es mir irgendwann unangenehm wurde, nicht nur im Mittelpunkt zu stehen, sondern zudem zu wissen, dass all diese Menschen nach mir gesucht hatten, als sei ich ein kleines Kind, forderte ich sie dazu auf, endlich wieder loszugehen. Schließlich waren wir in die Stadt gegangen, um... ja, keine Ahnung. Durch die Stadt zu gehen. Ich wollte schlichtweg der Situation entfliehen.
"Dafür, dass ich mich an so einem versteckten Ort aufgehalten habe, habt ihr mich aber recht schnell gefunden", stellte ich fest, während ich neben Cavyn ging.
"Keiner von uns wäre je auf die Idee kommen, du könntest hier sein", gab er zu. "Du hast es eigentlich nur einem zu verdanken, dass wir dich so schnell gefunden haben. Kian. Der wusste sofort, wo du warst."
Ich nickte langsam. Erst, nachdem einige Sekunden vergangen waren, wagte ich einen Blick über die Schulter zu Kian. Ich war nicht überrascht, als ich realisierte, dass er mich beobachtete.
Mit einem Handzeichen deutete er mir an, mich zu ihm zurückfallen zu lassen. Ich war mir nicht ganz sicher, warum ich seiner Aufforderung folgte.
Ich verließ Cavyn, um nun in ausreichendem Abstand neben Kian zu gehen. Nach einer Weile bemerkte ich, dass wir ein wenig Abstand zu den anderen gewannen. Als wollte Kian mit mir im Privaten sprechen.

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Worüber könnten die beiden wohl sprechen...?🤭🤔

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt