•zweiundsechzig•

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“Das Essen war wirklich sehr gut.”
“Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.” Veronica lächelte mich von der Seite an, bevor sie sich wieder daran machte, mit ihrer Gabel die Spaghetti aufzurollen, die sie zusammen mit einer Käsesoße gekocht hatte.
Ich war schon fertig mit essen, was nur noch mehr für ihr Gericht sprach. Mit Nudeln konnte man meiner Meinung nach nichts falsch machen. Ich konnte eine ganze Woche lang Nudeln essen, aber zwei Mal in der Woche Kartoffeln waren mir schon zu viel.
Beah grinste. “Das konnte man auch sehen. Du hast zwei Portionen gegessen, während ich noch immer mit meiner ersten beschäftigt bin.”
Ich zuckte mit den Schultern, musste aber auch schmunzeln. “Ich hatte kein Mittag”, verteidigte ich mich.
“Von mir aus kannst du auch fünf Portionen essen”, meinte Veronica und deutete auf die Töpfe, die in der Tischmitte standen. “Es ist genügend da.”
Das bedeutete, die nächsten Tage wäre mein Mittagessen auf jeden Fall gesichert.

Wir saßen noch einige Minuten, in denen auch die anderen beiden sich satt aßen. Veronica erzählte ein wenig von ihrem Job und dem neuen Angestellten, den sie gerade einarbeitete. Danach fragte sie uns über die Schule aus. Es gab nicht viel spannendes zu berichten, außer meinem Mathetest, den ich geschrieben hatte und bei dem ich sogar ein ganz gutes Gefühl hatte. Meine Erwartungen waren nicht hoch, also hoffte ich auf ein positives Ergebnis.
Wir waren bereits beim Abräumen, als Beah uns schon mal darauf vorbereitete, dass sie von Freitag zu Samstag bei ihrem Freund, Polk, übernachten würde. Ohne sie auch nur anzusehen, wusste ich, wie sehr sie sich darauf freute. Man hörte es in ihrer Stimme. Es lag eine solche Vorfreude darin, dass man denken könnte, sie hätte im Lotto gewonnen. Obwohl so, wie die Beziehung der beiden war, zweifelte ich nicht daran, dass mir die zwei das bestätigen würden. Wahrscheinlich fühlten sie sich in jeder Minute, in der sie zusammen waren, als hätten sie im Lotto gewonnen.

“Ist man immer so gut gelaunt, wenn man mit seinem Seelengefährten zusammen ist?” Die Frage war heraus, bevor ich darüber weiter nachdenken konnte. Aber es interessierte mich wirklich. Ich hatte Beah noch nie sauer oder ähnliches gesehen, wenn sie mit Polk zusammen war. Und auch Veronica schien ja kein allzu großes Problem damit zu haben, dass ihr Seelengefährte häufig gar nicht da war. Als würde die Freude, ihn überhaupt zu sehen, die negativen Emotionen einfach übertönen.
Beah drehte sich überrascht zu mir herum. Der Teller, den sie gerade in den Geschirrspüler hatte stellen wollen, fand sein Ziel nicht mehr. “Ich weiß nicht genau. Ich denke darüber nicht nach. Natürlich bin ich auch mal traurig oder wütend, aber bei Polk scheint alles irgendwie nicht ganz so schlimm zu sein. Und bei ihm habe ich immer die Gewissheit, dass alles gut werden wird. Ich schätze mal, das hilft einfach enorm.”

“Es kommt häufig vor, dass man sich nicht versteht”, sprang nun auch Veronica mit ein. “Da gibt es bei Seelenverwandten keinen großen Unterschied zu einfachen Beziehungen. Dein Partner versteht dich aber einfach besser, sodass es leichter ist, über die negativen Gefühle hinwegzukommen. Seelenverwandte sind kein Wundermittel und auch nichts, was dir ewig währendes Glück garantiert. Aber meistens kannst du dir sicher sein, dass es immer einen Ausweg aus Problemen gibt. Und diese Sicherheit verstärkt sich bei Seelenverwandten einfach, weil du weißt, dass ihr zusammen alles schaffen könnt.”
Ich nickte verstehend. Um ehrlich zu sein, klang das wirklich sehr schön, was die beiden dort erzählten. Aber irgendwie auch ein wenig zu schön, um wahr zu sein. 
“Warum fragst du?” Veronica warf mir einen Blick zu, der wahrscheinlich unauffällig aussagen sollte: "Gibt es etwa jemanden, den du uns verheimlichst?”, jedoch scheiterte sie im Thema Auffälligkeit kläglich.  
“Nur so. Beah klang so glücklich, dass ich mich einfach gefragt habe, wie groß der Einfluss ist, den Seelenverwandte diesbezüglich haben.”

Veronica wirkte tatsächlich ein bisschen enttäuscht. Ihre Tochter wiederum blickte mich zweifelnd an, während sie ihren Teller endlich in die Spülmaschine stellte. Ich glaubte zu wissen, woran - oder besser an wen - sie dachte.
Ich ging nicht darauf ein.
“Willst du heute wieder raus?”, fragte mich Veronica. Für sie war es jetzt schon normal geworden, dass ich regelmäßig abends noch einmal das Haus verließ.
Ich nickte. “Wahrscheinlich schon. Aber ich will nur kurz. Vielleicht gehe ich ein wenig durch die Nachbarschaft.” Ich zuckte mit den Schultern. Ohne Cody fehlte mir die Motivation, einen stundenlangen Spaziergang zu unternehmen. Ich wusste auch, dass keine Chance bestand, Kian zu treffen. Der war heute Abend nämlich mit seinem Vater beschäftigt. Und danach war er für ein Familienabendessen eingespannt worden. Abgesehen davon war er der Ansicht, dass ich Zeit bräuchte, um meinen verlorenen Schlaf der letzten Tage nachzuholen. Ich hatte zwar dagegen argumentiert, dass wir das gemeinsam bereits getan hätten, aber davon war er nicht überzeugt gewesen.
Allerdings hatte er mir im Gegenzug versprechen müssen, heute Abend nicht mehr zu arbeiten, sondern ebenfalls zu versuchen, zu schlafen.

Nachdem die Küche aufgeräumt war, zog ich mich warm an. Meine Kopfhörer steckte ich ebenfalls ein, um mir so die Zeit etwas zu versüßen. Gerade wollte ich die Haustür öffnen, als mir jemand zuvor kam und mein Vater in den Flur stapfte. Etwas erschrocken wich ich einige Meter zurück. Ich hatte noch nicht mit ihm gerechnet, obwohl es schon nach Sieben war.
“Hi”, begrüßte ich ihn kurz. “Wir sind gerade mit Essen fertig. Die anderen beiden sind in der Küche.”
Ich ging an ihm vorbei, da ich nicht erwartete, dass er mit mir ein Gespräch beginnen wollte. Scheinbar hatte ich mich getäuscht. Eine Hand an meiner Schulter hielt mich in meinem Vorhaben auf.
“Wo willst du hin?” Sein Tonfall war es, der mich störte. Gar nicht die Frage. Sondern die Art, wie er fragte. Als wüsste er schon, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde. “Du gehst nicht zu Kian.”
Ich hob überrascht die Augenbrauen. Ich hatte noch nicht einmal geantwortet. Doch ich ließ mich darauf ein. “Warum sollte ich nicht?”

“Ich erlaube es dir nicht. Du bist Kians Position nicht gewachsen. Du kannst dich noch nicht einmal verwandeln und hast nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, mit ihm zusammen zu sein. Glaubst du etwa, ich höre es nicht, wenn du abends noch einmal das Haus verlässt? Und das nur, wenn ich hier bin. Wer weiß, wie oft du tatsächlich abends noch einmal gehst.”
“Du wüsstest es, wenn du nicht immer so lange fern bleiben würdest”, entgegnete ich trotzig. Ich hatte sicherlich nicht vor, mir eine Standpauke anzuhören. Zumal ich gar nicht zu Kian gehen wollte.
“Wechsle nicht das Thema”, presste mein Vater unter zusammengekniffenen Lippen hervor. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, dass sein Verhalten diesbezüglich nicht in Ordnung war. “Wieso kannst du mir nicht einfach glauben, wenn ich dir helfen will? Du weißt noch zu wenig, um alles vollends zu verstehen.”
“Dann erklär es mir”, schlug ich ihm vor. Mir wurde zwar allmählich warm unter meiner Jacke, aber ich hatte nichts anderes mehr geplant.

“Kian wird Alpha werden. Daran besteht kein Zweifel. Und dabei werden viele Augen auf ihn gerichtet sein. Nicht nur von seinen Leuten, sondern auch von… anderen. Er darf sich keinen Fehler erlauben. Was meinst du, warum er sich so hart auf seinen Job vorbereitet?”
“Also bist du der Ansicht, ich könnte dem nicht standhalten?" 
“Ich meine damit, dass ich dir nur helfen will.” Das war keine Verneinung meiner Frage. “Wenn du Kians Seelenverwandte sein solltest, dann müsstest auch du dich auf deine Rolle vorbereiten. Und, wie schon gesagt, du hast dich noch nicht einmal verwandelt. Die Leute werden ungeduldig und fragen sich, warum. Glaub mir, du hast schon genügend Probleme. Hals dir nicht noch mehr unnötige auf.” Er drückte bekräftigend meine Schulter, bevor er mich stehen ließ und in die Küche ging.
Ich blieb reglos stehen und wusste gar nicht, was mich mehr schockierte. Die Tatsache, dass er glaubte, ich hätte genügend Probleme, obwohl er über die Hälfte davon nicht einmal kannte? Dass er Kian als unnötiges Problem bezeichnet hatte? Oder doch eher, dass er darüber nachdachte, ob ich Kians Seelengefährtin sein könnte?

Angesäuert ging ich ihm hinterher in die Küche, denn ich hatte nicht vor, ihm das letzte Wort zu überlassen. 
“Nur zu deiner Information: Abgesehen davon, dass es mein Leben ist und du dir reichlich wenig Mitspracherecht darin verdient hast, gehe ich einfach nur in der Gegend spazieren, um meinen Kopf freizukriegen. Vielleicht solltest du also erst mal halblang machen und nicht einfach irgendwelche Schlüsse ziehen.”
Ich wartete auf keine Antwort, machte kehrt und verließ schnurstracks das Haus. Zweifellos hatten Veronica und Beah alles von unserer Diskussion mitbekommen. Und meine Aktion gerade hatte es bestimmt nicht verbessert. 
Immerhin hatte ich jetzt etwas zu tun. Ich konnte mir Gedanken darüber machen, was mein Vater einfach so in den Raum geworfen hatte, als hätte nichts davon die Fähigkeit, mein komplettes Leben auf den Kopf zu stellen. 

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt