•vier•

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Kaum waren wir Zuhause angekommen, wurde ich von Cody begrüßt. Er bellte aufgeregt und hörte gar nicht mehr auf, immer wieder an mir hochzuspringen.
Lachend ließ ich meinen Rucksack achtlos im Flur liegen, um die Arme um ihn zu schließen. "Ich habe dich auch vermisst, mein Großer." Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, nahm ich meinen Rucksack in die Hände und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Beah und Veronica waren offensichtlich in die Küche gegangen, denn ich hörte Veronicas Stimme, als sie ihre Tochter fragte, wie der erste Schultag für uns verlaufen war.
Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer. Meinen Rucksack ließ ich neben dem Schreibtisch fallen, bevor ich auf mein Bett sank. Cody wartete nicht auf eine Einladung, sondern leistete mir schnell Gesellschaft. Er drängte seine Schnauze an meine Seite. So eng nebeneinander ließ ich die Minuten verstreichen.
Währenddessen starrte ich an die Decke. Ich war so fasziniert von dem Weiß meiner Decke, dass ich es schaffte, an nichts anderes zu denken.

Und das war auch gut so. Ich wollte nicht über meinen ersten Schultag nachdenken und überlegen, mit welchen Problemen ich in der Zukunft zu kämpfen hätte. Ebenso wenig wollte ich mich selbst damit in den Wahnsinn treiben, indem ich mich immer wieder fragte, wie ich wohl auf Beahs Freunde gewirkt hatte. Dieses typische über alles fünfzig Mal nachdenken, konnte zwar in manchen Momenten hilfreich sein, aber in den meisten Fällen führte es eher zu nichts. Deshalb bemühte ich mich, es lieber ganz bleiben zu lassen. Dabei nahm ich jede Ablenkung, die ich nur kriegen konnte.
Nebenbei glaubte ich zu vernehmen, wie Beah das Haus verließ. Wenig später tat es Veronica ihr gleich. Da mein Vater erst spät nach Hause kommen würde, so war es zumindest letzte Woche häufig der Fall gewesen, hieß das wohl, ich hatte das Haus nun eine Weile für mich.
Ich setzte mich auf und wagte einen Blick aus meinen Fenstern. Wenn niemand zu Hause war, bedeutete das, dass niemand komische Fragen stellen würde, wenn ich mich für einen Spaziergang im Wald aufmachte. Und da ich diesen Entschluss heute eh schon gefasst hatte, stand meinem Plan doch nichts mehr im Wege.

Ich schaute zu Cody, der mich aufmerksam ansah. Sein Kopf war schief gelegt, als wollte er mich fragen, was ich vorhatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Cody mich besser verstand, als es alle anderen konnten. Und das nicht auf eine besondere Hund-Besitzer-Beziehung. Nein, ab und zu hatte ich den Eindruck, Cody wusste, was ich dachte und fühlte.
Ich verließ mein Bett und schüttelte dabei den Kopf. So ein Quatsch. Cody war einfach nur mein Hund, der mich sehr gut kannte. Da war nicht mehr dabei.
Ich öffnete meinen Kleiderschrank, der übrigens riesig war, also wirklich... riesig... gigantisch, daraus könnte man ein weiteres Zimmer machen, und holte mir eine dünne Windjacke daraus hervor. Egal, wie warm es überall war, im Wald schienen die Temperaturen stets um drei Grad zu sinken. Das war zumindest meine Erfahrung.
Ich warf Cody einen fragenden Blick zu. "Willst du mitkommen?" Sollte ich auf diese Frage jemals ein Nein als Antwort erhalten, müsste ich mir wohl Sorgen machen.

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So wie es bei den meisten Wäldern heutzutage der Fall war, die sich die Menschen schon zu eigen gemacht hatten, gab es auch in diesem einen breiten Feldweg, der Besuchern einen Gang durch den Wald erlaubte, ohne den Wald wirklich kennenzulernen.
Deshalb fiel es mir nicht schwer, es Rotkäppchen gleich zu tun und rasch den Weg zu verlassen. Cody lief dabei stets voraus, schnüffelte aufgeregt an jedem Baum, um dann gleich darauf wieder zu mir zurück zu laufen. Wahrscheinlich war es das Wissen, dass er immer zu mir zurückkehren würde, das mich sorglos in der Gegend umher blicken ließ, nicht darauf achtend, wo mein Hund hin lief.
Meine Hand berührte nacheinander jeden Baum, an dem mich mein Weg vorbei führte. Neben einer breiten Eiche verweilte ich etwas länger. Meine Handfläche schmiegte sich an ihre Rinde. Ich schloss die Augen, als mich der wohlige Schauer überfiel, den Mum damals immer so angepriesen hatte. Ihrer Meinung nach war unsere Verbundenheit zur Natur das Schönste, was wir besitzen konnten. Denn es zeigte uns zum einen, wie bedeutungslos wir doch waren und zum anderen, dass wir uns geehrt fühlen sollten, neben solch wunderschönen Wesen leben zu dürfen.

Ich löste meinen Kontakt zum Baum und war nicht überrascht, als ich realisierte, dass sich meine Lippen dabei zu einem Lächeln verzogen hatten. Das war es, was mich glücklich machte. Hier draußen, im Einklang mit der Natur zu sein. Es erinnerte mich an meine Mutter. Sie hatte mich an diese Leidenschaft herangeführt. Ganz aufgeregt hatte sie mir schon im jungen Alter davon berichtet, wie es sei, wenn nichts anderes auf dieser Welt zählte. Wenn du weißt, dass du dich in der Obhut von einer viel stärkeren Macht befindest. Sie würde dich für immer ehren und schützen, wenn du ihr nur das Gleiche zukommen lässt.
Ich war vier, als sie mich zum ersten Mal auf einen ihrer Spaziergänge mitnahm. Sie hatte gelächelt, als ich aufgeregt und voller Energie von einem Strauch zum nächsten gehüpft war. Sie hatte meine Hand genommen, als ein Quieken aus meinem jungen Mund entflohen war, als ich ein Eichhörnchen, keine zwei Meter von uns entfernt, einen Baum hochklettern sah. Mum hatte mir gezeigt, wie ich wahre Ruhe und Vollkommenheit erreichen konnte. Sie hatte meine Hand auf einen kleinen Ahorn gelegt, hatte mich gelehrt, was es bedeutete, die Natur um dich herum zu ehren.

Eine Träne auf meiner Wange ließ mich blinzeln. Ich vermisste sie. Mehr als alles andere auf dieser Welt. Ich konnte nicht begreifen, wie ich sie verloren haben konnte.
Mit einem leisen Zischen kam meine Träne auf dem Erdboden auf. Ich wischte mir über die Wangen, bevor ich mich abwandte.
Ich erinnerte mich noch genau an diesen Tag. Denn als wir zurückkehrten, wartete mein Vater bereits auf uns. Er verlangte, von Mum zu erfahren, wo sie mit mir gewesen war und warum sie sich nicht mit ihm abgesprochen hatte. Ich floh rasch auf mein Zimmer. Ich wollte die Streitigkeiten meiner Eltern nicht mit anhören. Sie machten mich jedes Mal traurig, weil ich nie verstand, was das eigentliche Problem war.
Wahrscheinlich war ich deshalb nicht überrascht, als mein Vater Mum und mich verließ, als ich gerade einmal sieben Jahre alt war. Ich musste ihm zugute halten, dass er danach stets den weiten Weg auf sich nahm, um mich zu besuchen. Aber auch diese regelmäßigen Besuche endeten ein Jahr später.

Als Cody das nächste Mal bei mir ankam, erwartete ich ihn mit einem kleinen Lächeln. Er barg seinen Körper dicht an meinen Beinen.
"Hast du dich ein bisschen zu sehr ausgepowert, was?", wollte ich neckisch von ihm wissen.
Doch jegliche Freude verließ mich, nachdem Cody seinen Kopf anhob. In seinen Augen stand nicht mehr die Aufregung und die Begeisterung, etwas Neues auszukundschaften.
Irgendetwas hatte ihn aus der Fassung gebracht. Erst jetzt realisierte ich, dass er sich nicht so nah an mich lehnte, weil er den Kontakt zu mir suchte, sondern weil er mich zurückdrängte. Er wollte mich beschützen.
Ich runzelte die Stirn. "Was ist los? Was hast du gesehen?"
Seine Rute stellte sich auf und wedelte hin und her. Cody drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. Zur Bekräftigung bellte er einmal.
Ich fixierte meinen Blick, um etwas in der Ferne erkenne zu können. Doch ich sah nichts. Minutenlang war nichts zu hören, außer dem regelmäßigen Klacken eines Spechts.
Doch ich wäre wohl ziemlich dumm, wenn ich der Warnung meines Hundes nicht trotzdem Gehör schenken würde. Ich beugte mich zu ihm herunter und flüsterte: "Komm, wir gehen." Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, den Wald zu verlassen. Die Zeit war schnell vergangen. Ich konnte gar nicht mehr einschätzen, wie spät es war.
Obwohl der Wald mein zweites Zuhause war, war ich nicht so naiv, zu vergessen, dass es auch in Wäldern immer Kreaturen geben würde, vor denen man Angst haben sollte.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt