•siebenundvierzig•

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Jeder reagierte anders, wenn er sich verloren fühlte. Manche vergruben sich in ihrem Bett und kamen erst wieder heraus, wenn sie wieder ein Ziel vor Augen hatten. Andere suchten Ablenkung in Büchern und Social Media. Ersteres war mir nach einer Weile zu langweilig geworden und letzteres erfüllte auch nicht seine erwünschte Wirkung.
Wenn ich mich früher nicht gut gefühlt hatte, hatte ich meist die Nähe meiner Mutter gesucht. Sie hatte immer gewusst, wie sie mich aufheitern konnte. Sie war stets meine Retterin in der Not. Jetzt war ich wohl in einem Alter, wo ich das alleine hinbekommen musste. Und wenn ich das nicht schaffte, musste ich halt kreativ werden.
Da mein Vater heute durchgängig zuhause war und ich keine Lust hatte, dass er mich belauschte, schnappte ich mir kurzerhand Cody. Zusammen gingen wir ein Stück, bis wir in einem Park ankamen, der gerade wenig besucht war. Über die gesamte Fläche zog sich grünes, frisches Gras, das nur ab und zu von einigen Blumen unterbrochen wurde, die sich noch nicht vor der Kälte zurückgezogen hatten. Die Bäume boten ebenfalls einen angenehmen Kontrast zum Grün des Bodens. Die meisten ihrer Blätter verfärbten sich bereits, sodass mich - wenn ich den Kopf in den Nacken legte - eine Farbenpracht aus Gelb, Rot und Braun empfing.

Cody und ich waren beide zufrieden mit unserer Wahl. Wir suchten uns ein Plätzchen etwas abseits der Parkbänke, damit ich Cody frei laufen lassen konnte. Ich setzte mich an einen Baumstamm und lehnte mich an die Rinde, bevor ich mein Handy aus meiner Jackentasche zog.
Da ich keine Möglichkeit hatte, mit meiner Mum in Kontakt zu treten, suchte ich nach der ihr am nächsten Person. Meiner Großmutter, der ich sowieso versprochen hatte, sie häufiger anzurufen.
Es klingelte mehrmals, als ich ihre Nummer wählte. Ich befürchtete schon, sie würde nicht rangehen. Doch im nächsten Moment schallte ihre freudige Stimme durch den Lautsprecher.
"Na, mein Schatz, wie ist es dir in den letzten Wochen so ergangen?" Ihre Stimme klang mal lauter, mal leiser, als würde sie sich mal näher am Mikrofon befinden und dann wieder Abstand nehmen.
"Gut, ich habe mich auf jeden Fall schon besser eingelebt."
"Das freut mich. Ich wusste aber, dass dir das leicht fallen würde."
Ich runzelte die Stirn. Ich hatte von Glück reden können, dass Beah einen so großen Freundeskreis besaß und dieser kein Problem damit hatte, mich bei sich aufzunehmen. Keine Ahnung, was ich sonst gemacht hätte. Ich war nicht wirklich die Person, die aus sich herauskam, um neue Freunde zu finden.

Plötzlich vernahm ich ein lautes Klappern am anderen Ende der Leitung. Kurz darauf fluchte meine Oma.
"Alles okay?", fragte ich sie.
"Ja, nichts passiert. Mir ist nur mein Kochlöffel runter gefallen."
"Was machst du denn gerade?"
"Ich backe. Oder zumindest versuche ich es. Ich bin heute Morgen aufgewacht und habe mich gefragt, was ich denn heute besonderes anstellen könnte. Meine Auswahl beschränkte sich auf Backen oder sich mit anderen in meinem Alter treffen. Da fiel mir die Wahl recht leicht. Allerdings probiere ich ein neues Rezept aus und stelle mich dabei scheinbar nicht so gut an."
Ich grinste, da sich das ganz so anhörte, als wäre es ein absolutes Desaster, was sie dort gerade veranstaltete. "Schickst du mir ein Foto, wenn es fertig ist?"
"Sicher doch. Dann kannst du dich wieder über mich lustig machen."
Ich schnappte empört nach Luft. "Das würde ich niemals tun."
"Aber natürlich nicht. Also, erzähl, warum rufst du an?"

"Ich habe dir doch gesagt, dass ich einfach nur regelmäßiger mit dir telefonieren möchte. Es gibt keinen richtigen Grund für meinen Anruf."
"Als du mich das letzte Mal angerufen hast, lag dir auch etwas auf dem Herzen. Glaub mir, ich kenne dich gut genug, um das zu wissen. Und das ist doch auch überhaupt nicht schlimm. Ich bin gerne die Person, die du anrufst, wenn dir alles zu viel wird. So, jetzt nicht erschrecken." Ein Klappern und dann ein blecherner Ton." Ich habe meinen Kuchen jetzt in den Ofen geschoben. Vielleicht kann ihn der noch etwas schöner machen. Viel Hoffnung habe ich da aber nicht. So, warte kurz. Ich setze mich hin. Alles klar, jetzt gehöre ich ganz dir."
Ich seufzte schwer. Meine Finger fanden von alleine das Ende meines Pferdeschwanzes und zwirbelten meine Haare abwesend im Kreis. "Ich kann dir nicht wirklich sagen, was gerade los ist. Nur dass gerade sehr viel passiert und es mir schwer fällt, alles zu verarbeiten."
Eine kurze Stille, dann ein verstehendes "Ah".
Verwirrt schob ich die Augenbrauen zusammen und wartete auf eine Erklärung meiner Oma.

"Du hast es also herausgefunden", stellte sie fest.
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Ich war einfach davon ausgegangen, dass meine Großmutter keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Doch ihre Reaktion überraschte mich.
"Du weißt es?"
"Natürlich. Die Anzeichen waren bereits im jungen Alter bei dir nicht zu übersehen."
Schockiert hakte ich nach: "Das heißt, du bist auch-?"
"Eine Hexe? Nein." Sie lachte kurz. "Nein, ich gehöre zu den Menschen. Ziemlich langweilig, wenn einem klar wird, was es noch alles für Spezien auf dieser Erde gibt. Aber dein Großvater war ein Hexer. Er vertraute mir schon recht früh an, was er war. Das war zwar nicht gerne gesehen, da ich zu dem Zeitpunkt aber gerade schwanger war, konnte man seine Entscheidung verstehen. Im Nachhinein war ich auch recht froh, schon zu wissen, dass es eine Wahrscheinlichkeit gab, dass meine Tochter eine Hexe wurde."
"Und war das irgendwie... ich weiß auch nicht, erschreckend für dich? Ich meine, plötzlich herauszufinden, dass es nicht nur Menschen gibt?"
"Hm, doch schon. Aber ich hatte einen Partner an meiner Seite, der mir mit viel Geduld alle meine Fragen beantwortete. Dank ihm habe ich diese Welt lieben gelernt, auch wenn ich nie wirklich ein Teil davon war."

Gedankenverloren beobachtete ich Cody, der gerade an einer roten Blume schnupperte. Mein Respekt für meine Großmutter wuchs. Ich stellte es mir ziemlich beängstigend vor, zu erfahren, was alles um einen herum war. Bei mir war es dann ja doch noch anders. Ich war wenigstens ein Teil von allem. Aber meine Oma war menschlich. Und trotzdem hatte sie den Einstieg in diese Welt gemeistert.
"Das war übrigens auch ein Grund, warum ich dich zu deinem Vater geschickt habe." Die Stimme meiner Oma war jetzt leiser, etwas sanfter. "Erinnerst du dich noch, als du eine Vase bei mir zerstört hast?"
Wie konnte ich das vergessen? Es war für mich erschreckend gewesen. Etwas, das ich mir nicht hatte erklären können.
"Da wusste ich mit Sicherheit, dass du kein Mensch warst. Und ich wusste auch, dass ich dir keine so guten Einstieg in deine Welt ermöglichen konnte, wie andere, die ebenso waren wie du. Also beschloss ich, dass das Leben bei deinem Dad dir da vielleicht helfen könnte. Schließlich ist erst er eben Teil dieser Welt."
"Davon weißt du also auch Bescheid, was?" Ich erwähnte mit keinem Wort, dass mein Vater mir keine wirkliche Hilfe dabei gewesen war, leichter mit meinem neuen Ich zurechtzukommen. Stattdessen hatte ich meine Freunde, die mir dabei geholfen hatten.

"Ja, deine Mum erzählte es mir, als sie sich dazu entschieden, ein Kind zu bekommen."
"Hat sie dir auch erzählt, warum er uns verlassen hat?" Die Frage war raus, bevor ich begriff, dass ich sie gestellt hatte.
Sie zögerte. "Darüber redest du vielleicht lieber mit deinem Dad. Ich bin mir sicher, er kann dir diese Frage besser beantworten als ich. Es steht mir auch nicht zu, darüber zu reden."
"Okay", murmelte ich, etwas enttäuscht, aber ich verstand ihre Entscheidung dennoch.
"Keine Sorge, mein Schatz. Es wird sich schon alles geben. Du bist überfordert mit deiner Situation, und das ist auch vollkommen verständlich. Aber deine Mutter wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass du von alleine erfahren solltest, wer du bist. Alles wird so kommen, wie es soll."
Ein toller Spruch. Ich verkniff mir den Kommentar. Wir unterhielten uns noch etwas, dieses Mal aber über belanglose Dinge. Nach etwa zwanzig Minuten beendeten wir unser Telefonat.

Ich verweilte noch in der Stille meiner Umgebung und ließ den Blick schweifen. Cody genoss seinen Freiraum und lief interessiert in der Gegend umher.
Meine Augen wanderten über die verschiedenfarbigen Blumen und blieben an welchen hängen, die von einem besonders starken Rotton waren. Sie befanden sich in einiger Entfernung. Ich konnte ihre Form nur erahnen. Ich wunderte mich gerade darüber, dass sie so lebhaft schimmerten, als sie plötzlich verschwanden und etwa fünf Meter weiter links in einem Dickicht erneut auftauchten. Danach verschwanden sie vollkommen.
Nach einer Weile machten Cody und ich uns auf den Rückweg. Kaum verließen wir den Park, erhielt ich eine Nachricht. Es war ein Bild des Kuchens, den meine Großmutter gebacken hatte. Er sah gar nicht mal so schlecht aus. Etwas verkokelt, aber sonst gut. Ich konnte aber bei bestem Willen nicht erkennen, was sie dort gebacken hatte.
Abends in meinem Zimmer dachte ich noch einmal über die besonderen Blumen nach und wie es sein konnte, dass sie sich von einem Punkt zum anderen bewegt hatten.
Erst in der Dunkelheit meines Zimmers und mit Codys gleichmäßigem Atem neben mir kam ich auf eine andere Erklärung für das, was ich gesehen hatte.
Augen. Es waren rote Augen gewesen, die mich aus der Ferne beobachtet hatten. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich war froh, dass ich sämtliche Fenster und Türen geschlossen hatte.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt