•achtunddreißig•

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Meine Frage brachte Kian kurzzeitig aus dem Konzept, was mich verwirrte. Er musste doch damit gerechnet haben, dass ich sie stellen würde. Sie war die einzige logische Reaktion.
Vor allem würde mir seine Antwort etwas über Kian verraten. Ich war mir zu neunzig Prozent sicher, dass er ebenfalls ein Werwolf war. Anders konnte ich mir die enge Verbundenheit der Gruppe nicht erklären. Außerdem wusste er von der Vollmondnacht. Ich war mir zu fünfundneunzig Prozent sicher, verbesserte ich mich. Würde Kian nun lügen und versuchen, mir glaubhaft zu machen, er wäre kein Werwolf, dann konnte ich mir sicher sein, dass ich ihm nicht trauen konnte. Wäre er allerdings ehrlich und gab zu, was er war, dann würde mir das helfen, ihn nicht vollkommen aufzugeben.
"Also?", fragte ich ihn, als er mir nach einiger Zeit noch immer nicht geantwortet und mir stattdessen mit diesem unnahbaren Ausdruck ins Gesicht gesehen hatte, der mir verriet, wie wichtig es ihm war, dass ich nicht wusste, was in ihm vorging.
Kian räusperte sich. "Es stimmt. Ich bin wie sie."
Zwei Sätze, die mir doch so viel bedeuteten.
"Und warum warst du dann nicht da? Am Samstag, meine ich?"
"Ich hatte etwas anderes zu tun. Das war nicht gelogen."

Man musste mir meine Erleichterung wohl deutlich ansehen, denn er runzelte die Stirn und wollte wissen: "War dir das jetzt so wichtig? Zu erfahren, dass ich einen tatsächlichen Grund hatte, nicht am Samstag zu erscheinen."
"Ja", gab ich zu. "Zwischendurch ist die Wahrheit ganz erfrischend. Und um ehrlich zu sein, hatte ich mich gefreut, dir am Wochenende unter die Nase zu reiben, dass ich nicht auf dich höre."
Das brachte ihn zum Schmunzeln. Seine braunen Augen leuchteten, als er erwiderte: "Wenn dir deine Unabhängigkeit so wichtig ist, werde ich mich davor hüten, sie dir noch einmal nehmen zu wollen."
Überrascht ließ ich meine Schultern, die vom vorigen Gesprächsthema noch angespannt waren, wieder locker. "Wirklich? Warum kann ich dir das irgendwie nicht glauben?"
Nun grinste Kian mich breit an und ein kleiner Teil von mir freute sich, dass ich es geschafft hatte, dass sich seine Laune verbessert hatte. "Ich werde es versuchen. Ich kann dir aber versprechen, dass ich in Situationen, in denen es notwendig wird, alles dafür geben werde, damit du das tust, das dich in Sicherheit bringt. Und dann wird es mir egal sein, ob dich das stört. Deine Sicherheit ist mir zu wichtig."

Ich gab mir alle Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, was sein Kommentar mit mir anrichtete. Zuerst verstand ich nicht, weshalb es mir so viel bedeutete, wenn sich jemand Sorgen um mich machte. Schnell fiel mir aber eine Begründung ein. Es hatte immer nur eine Person gegeben, die sich wirklich stets um mich gekümmert hatte. Nicht mein Vater, der mich verlassen hatte. Auch nicht meine Oma, obwohl sie uns ab und zu besucht hatte. Nein, es war meine Mum, die immer alles stehen und liegen gelassen hatte, um für mich da zu sein.
Jetzt zu wissen, dass es noch jemanden gab, der vielleicht das Gleiche für mich tun würde, damit konnte ich nicht umgehen. Es hievte eine Verantwortung auf meine Schultern, die ich nicht verstand. Warum bloß sagte Kian so etwas? Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn jemals durch besonders liebe oder fürsorgliche Worte dazu zu bringen, mir so gegenüber zu empfinden. Mir so etwas zu sagen.
Rasch ging ich auf seinen Kommentar ein, wobei ich mir Mühe gab, den Part, der mich aus dem Konzept brachte, geschickt zu umspielen. "Meinst du mit notwendige Situationen beispielsweise wenn mich Vampire mal wieder verfolgen?"
Mein versuchter Witz erzielte nicht seine gewünschte Wirkung. Ein dunkler Schatten zog sich über Kians Gesicht. "Erinner mich nicht an Jeremy und seine hungrige Meute. So etwas wird nicht noch einmal passieren."

Jeremy, wiederholte ich den Namen in meinem Kopf. Das klang passend für den Psycho. Unfreiwillig dachte ich wieder zurück an mein wildes Rennen. Er hatte gewusst, was ich war. Noch bevor ich es überhaupt selbst begriffen hatte.
"Jeremy, er... wusste, was ich war. Er hat es mir hinterher gerufen, kurz bevor er meine Verfolgung aufnahm."
Kian zog beide Augenbrauen dicht zusammen als Zeichen seiner Ratlosigkeit. "Woher wusste er das? Du hast es ihm nicht gesagt, oder?"
Ich stieß ein trockenes Lachen aus. "Definitiv nicht." Dann stockte ich. Ich hatte eben vorausgesetzt, dass Kian wusste, was ich war. Dabei hatte ich es ihm ebenfalls nie gesagt. Er hatte allerdings seinerseits nie nachgefragt. So als wüsste er es ebenfalls.
"Du weißt, was ich bin, nicht wahr?"
"Das tue ich", erwiderte er, ohne zu zögern.
"Du bist nie davon ausgegangen, ich könnte ein Werwolf sein."
"Das ist richtig."
"Warum nicht?"
"Ich war dabei, als du ein Fenster hast zersplittern lassen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie du einen Baum beinahe in zwei Stücke zerteilt hast. Danach musste ich dich nur ansehen, um zu wissen, dass nur du die Quelle dieser gewaltigen Macht sein konntest. Und auch wenn ich es sehr bedauere, verfügen Werwölfe nicht über solche Fähigkeiten."

"Dafür könnt ihr sehr gut hören und sehen", vermutete ich. "Und ihr könnt euch in einen verdammten Wolf verwandeln, was ich ziemlich cool finde."
Kian schmunzelte. "Du hast recht. Es ist ziemlich cool."
"Warum trefft ihr euch immer bei Vollmond? Vollzieht ihr wirklich ein Ritual?"
"Nein." Kian lachte kurz. "Bei Vollmond verlieren wir die Kontrolle über unsere zweite Hälfte. Wir verwandeln uns, ohne es zu wollen. Unsere wölfischen Instinkte sind sehr stark und es reicht das kleinste Anzeichen von Gefahr und wir könnten... ausrasten. Deshalb bleiben wir während der Zeit in einer Gruppe. So kontrollieren wir uns gegenseitig."
"Klingt sinnvoll", murmelte ich. "Es muss schön sein, in einer Gruppe zu leben. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das auf mich nicht zutrifft."
Er verstand meine Frage, ohne dass ich sie aussprechen musste. "Es stimmt. Du bist eher eine Einzelgängerin. Was aber nicht bedeutet, dass du es sein musst."
Ich hob fragend eine Augenbraue in die Höhe. "Was meinst du damit?"

"Keiner von uns hat ein Problem damit, wenn du weiterhin zu unserer Gruppe gehörst, auch wenn du... nicht so bist wie wir. Du bist dennoch ein Teil von uns, vollkommen egal, was du bist. Und wir sorgen füreinander." Kians Miene wurde weich, als sich ein Lächeln in seine Mundwinkel schob. "Wenn du mich lässt, dann würde ich dir gerne helfen. Mit deinen Fragen, deinen Kräften. Wir könnten gemeinsam dafür sorgen, dass es erst einmal nur Vampire gibt, die hinter dir her sind, indem wir weiterhin einen Schwindel aufrecht erhalten."
"Nur Vampire?", wiederholte ich hysterisch. "Nur blutrünstige, schnelle Wesen, die mich tot sehen sollen?"
"Ich weiß, du willst es nicht hören, aber es geht deutlich schlimmer. Und wir werden dafür sorgen, dass es nicht schlimmer werden wird. Wenn du mich dir helfen lässt."
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann unser anfangs provokatives und misslauniges Gespräch so viel Vertrauen gewonnen hatte. Aber ich war dankbar für diese Entwicklung.
Einer Intention folgend griff ich nach Kians Hand, die an seiner Seite verweilte. Ich hielt sie in meiner Hand, was er verwundert verfolgte. "Einverstanden. Womit beginnen wir?"
Erneut trat dieses Funkeln in seine Augen, das ich nicht ganz deuten konnte. Aber ich wusste, dass ich es mochte. Sogar sehr.
Kian änderte unsere Hände, sodass seine nun meine hielt und er mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken streichen konnte. "Lass uns mit deinen Fähigkeiten beginnen und herausfinden, zu was du alles in der Lage bist."

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Leider muss ich euch mitteilen, dass nächste Woche Donnerstag und Sonntag wieder kein Kapitel kommen wird 😬 Ich habe das Glück, noch einmal in den Urlaub zu fahren und werde dehalb wahrscheinlich nicht zum Schreiben kommen. Es wird dann nach meinem Urlaub am Donnerstag weitergehen 😊
Habt eine schöne Zeit bis dahin

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt