•sechsundzwanzig•

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"Lilli, oh, ich freue mich ja so, dass du dich bei mir meldest!" Die Stimme meiner Oma überschlug sich fast, als sie mir ihre Freude kundtat.
Das hatte ich geahnt und es war auch einer der Gründe gewesen, warum ich sie angerufen hatte.
Ich wich geschickt einem Fußgänger aus, der plötzlich von rechts kam. "Das hätte ich schon viel früher machen sollen. Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe." Ich spielte mit dem Gedanken, ihr die typische Ausrede, ich hätte so viel um die Ohren gehabt, aufzutischen, entschied mich aber dagegen.
"Ach, das macht doch nichts. Ich hätte schließlich auch durchrufen können. Ich wollte dich aber nicht mit meiner ständigen Neugier nerven, deswegen habe ich gewartet, bis du mich anrufst. Wir hatten also beide unsere Gründe. Das Wichtigste ist aber, dass wir jetzt miteinander sprechen."
Ich war froh, dass sie mein schlechtes Gewissen nicht noch weiter anfeuerte. Um ehrlich zu sein, hatte ich oft mit der Idee gespielt, sie anzurufen. Zu groß war aber meine Angst vor Fragen wie "Bist du glücklich bei deinem Dad?", "Hast du viele neue Freunde gefunden?" oder "Ist noch einmal so etwas wie hier geschehen, etwas, das du dir nicht erklären konntest?". Jenen Fragen wollte ich aus dem Weg gehen, um mich nicht weiter mit den Konsequenzen beschäftigen zu müssen, die gewisse Antworten mit sich bringen würden.

"Wo bist du denn gerade? Es ist so laut bei dir?", schrie sie ins Telefon, weil sie offensichtlich nicht daran dachte, dass, nur weil sie mich schwerer hören konnte, das nicht bedeutete, ich hörte sie ebenso schlecht.
"Ich bin gerade in der Innenstadt und lenke mich ein wenig vom Schulalltag ab. Wahrscheinlich hörst du andere Men-... Personen und Autos." Ich räusperte mich, um darüber hinwegzutäuschen, dass ich das Wort "Mensch" jetzt eher seltener benutzte. Einfach, weil ich das Gefühl hatte, es würde der Wahrheit dieses Ortes und seiner Bewohner nicht gerecht.
"Natürlich, das ergibt Sinn. Wie ist die neue Stadt denn so? Sellwyll?"
"Die Stadt ist ganz schön", gab ich zu. "Es gibt einige Plätze, an denen ich mich sehr wohlfühle. Auch die Leute hier sind überwiegend freundlich."

"Nur überwiegend?", hakte meine Oma verwundert nach.
"Ja, wie das eben so ist, man kommt nicht mit jedem aus." Es war keine ganze Lüge, deshalb ging meine Antwort schon in Ordnung.
"Ja, das kenne ich. In meiner Rommé-Gruppe gibt es auch eine Frau, die ich insgeheim nicht ausstehen kann. Wir passen von der Art her einfach nicht zusammen."
Ich blieb an einer Kreuzung stehen, hatte mein Ziel aber schon in Sicht: die Stadtbibliothek. "Warum spielst du dann mit ihr?"
"Abgesehen davon, dass sie zu unserer Gemeinschaft gehört, gibt es immer sehr guten Wein, wenn wir bei ihr spielen. Den will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Ich könnte ihn mir zwar auch selbst kaufen, jedoch besitze ich leider nicht das Geld dafür. Deshalb muss ich sie ertragen." Meine Oma seufzte schwerfällig.

Grinsend überquerte ich die Straße, als die Ampel auf Grün schaltete. "Was tut man nicht alles für seinen Alkohol."
"Du sagst es, Lilli. Wie lebt es sich denn so mit... Veronica, das war doch ihr Name?"
"Ja. Sie ist sehr nett und tut ihr Bestes, um mir zu zeigen, wie willkommen ich bei ihnen bin. Ihre Tochter, Beah, und ich sind auch befreundet."
"Das freut mich für dich." Obwohl ich es nicht sah, konnte ich ihr Lächeln quasi hören.
Es entstand eine Stille zwischen uns und ich hatte das merkwürdige Empfinden, dass meine Oma gerade überlegte, ob sie mir eben jene Fragen stellen sollte, von denen ich hoffte, dass sie es nicht tat.
Um ihr die Entscheidung zu erleichtern, überrumpelte ich sie mit einer Frage. "Und wie ist das Leben zuhause so? Gibt es etwas Neues?"
"Nicht wirklich. Alles ist so langweilig wie eh und je. Ich spiele schon mit dem Gedanken, ebenfalls woanders hinzuziehen." Sie lachte kurz auf, doch das konnte mich nicht von der tatsächlichen Intention ihrer Aussage ablenken.
Entweder wollte sie mich von meiner Heimat abbringen und mich so vergessen lassen, was ich alles hinter mir gelassen hatte, als ich umgezogen war. Oder aber sie wollte tatsächlich umziehen. Denn bis auf ihre Rommé-Gruppe gab es nicht mehr viel, dass sie sie dort hielt. Keine Familie oder besonders schöne Erinnerungen, die nicht von dem Tod meiner Mum geschwärzt worden waren.
"Sag mir nur Bescheid, wohin es dich zieht", antwortete ich.

Damit reagierte ich nicht, wie meine Oma vielleicht gehofft hatte, ebenfalls mit Spaß auf ihre Aussage, zeigte aber gleichzeitig, dass es für mich okay wäre, wenn sie umzöge.
"Das mache ich, Liebes."
Ich war vor der Bibliothek angekommen. "Ich werde dich jetzt regelmäßiger anrufen, das verspreche ich dir."
Ein lautes Lachen am anderen Ende der Leitung weckte Erinnerungen in mir, die ich wie einen Schatz in meinem Herzen bewahrte. "Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Lilli. Das weißt du doch."
Ich lächelte leicht, bevor ich sagte: "Du hast recht. Das tue ich."
"Tschüss, Liebes, bis zum nächsten Mal. Ruf einfach durch, wann es dir passt."
"Das mache ich", versprach ich und nahm mir vor, mich auch daran zu halten.
Ich beendete unser Telefonat und stellte mein Handy auf lautlos. Danach öffnete ich die schwere Holztür zur Bibliothek. Ich begrüßte den Bibliothekar und machte mich daran, die Regale nach etwas zu durchforsten, das Antworten für mich bereithalten könnte.
Ich verlangte gar keine schwierigen und umständlichen Erklärungen, sondern wollte einfach nur wissen, in was ich hier herein gestolpert war. Wollte ich es den Büchern hier schwer machen, würde ich eine Antwort darauf verlangen, warum Kian seit dem Aufeinandertreffen mit Yadier nicht mehr in der Schule gewesen war und warum auch keiner seiner Freunde mir seine Abwesenheit erklären konnte. Doch so viel forderte ich nicht.
Seufzend entschied ich mich, an einem Buchregal mit der Kennzeichnung Historie etwas länger zu verweilen. Vielleicht würde ich hier bei genauerer Suche das finden, was ich suchte.

Meine Hoffnung war vergeblich. Nach fünfzehn Minuten glaubte ich bereits nicht mehr daran, hier etwas Hilfreiches zu finden. Da war ja sogar die Internetseite dieser Stadt informativer gewesen.
"Du siehst ein wenig verloren aus."
Erschrocken registrierte ich den Mann neben mir. "Mr. Schöff, Sie haben mich vielleicht erschreckt."
"Oh, das tut mir leid." Er lächelte entschuldigend und ich nahm es ihm sofort ab. Diesen Mann konnte man nur mögen, zumindest war das meine Ansicht.
"Alles gut. Ich habe nur nicht mit Ihnen hier gerechnet. Und ja, ich fühle mich auch verloren." Ich richtete meinen Blick wieder auf die dutzenden Bücher mit ihren bunten Buchrücken.
"Warum habe ich das Gefühl, dass du mit dieser Aussage nicht nur die Bibliothek meinst?" Mr. Schöff legte den Kopf schief und lächelte mich wissend an.
Ich zuckte mit den Schultern, antwortete ihm aber nicht.
"Du weißt es wohl immer noch nicht, nicht wahr?" Auf meinen verwirrten Blick hin fügte er hinzu: "Was du bist. Wer du bist. Wohin du gehörst."
"Mir war nicht bewusst, dass meine Existenzkrise so offensichtlich für alle ist", murmelte ich und fühlte mich verletzlich, weil dieser Mann mich so gut lesen konnte.
"Das ist sie nicht", beruhigte er mich. "Ich weiß einfach nur, wonach ich suchen muss, um die Anzeichen zu erkennen. Außerdem bist du eine der wenigen Schülerinnen, die meinen Unterricht wirklich genießen zu scheinen, weswegen ich dich umso mehr zu schätzen gelernt habe."

Ich schmunzelte. Es wundert mich nicht, dass ihm meine Faszination für seinen Unterricht aufgefallen war. Denn mit Mr. Schöff machte das Fach Musik nicht nur Spaß, weil es Musik war, sondern auch, weil er seinen Unterricht in meinen Augen unterhaltsam gestaltete.
"Vielleicht kann ich dir in deiner Krise helfen", bot er an und ich riss überrascht die Augen auf.
"Gehören sie etwa nicht zu der Sippe jener Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Wahrheit, so gut es geht, vor mir zu verstecken?"
Jetzt brach Mr. Schöff in ein lautes Lachen aus. Rasch legte er sich die Hand vor den Mund, um seine Lautstärke wieder etwas herunter zu fahren.
"Nein. Ich gehöre definitiv nicht zu denen. Aber mach dir nicht zu große Hoffnungen. Ich werde dir deine Antworten nicht einfach in den Mund legen."
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte ich mir.

Ich verkniff mir aber jeglichen Kommentar, denn das hier war das erste Gespräch, bei dem ich wirklich auf einige Lösungen hoffen konnte.
Mr. Schöff holte aus seiner braunen Ledertasche, die er über seine Schulter trug, ein dickes Buch, das mit einem goldenen Einband versehen war. Es hatte keine Inschrift, sodass ich nicht von außen erkennen konnte, wer dieses Buch geschrieben hatte. Auch seinen Namen konnte ich nicht ausmachen.
"Das hier wird dir zumindest deine Suche etwas erleichtern. Und es könnte dir dabei helfen, dich nicht mehr vollkommen verloren zu fühlen." Er überreichte mir sein Buch.
Fasziniert strich ich über den Einband. "Dankeschön. Ich weiß gar nicht, womit ich ihre Hilfe verdient habe", gab ich offen zu, während meine Augen noch auf seinem Geschenk verweilten.
Mr. Schöff antwortete mir nicht. Stattdessen sah er mir zu, wie ich das Buch in meinen Arm legte und es eng an mich drückte.
"Wenn du Fragen hast, kannst du gerne zu mir kommen. Ich werde versuchen, dir den Weg zu deinen Antworten etwas von den Steinen zu befreien, die dir gewisse Personen dort hingelegt haben. Mir reicht es schon, zu wissen, dass ich ihnen damit einen gewaltigen Strich durch die Rechnung mache werde."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt