•sechs•

545 39 2
                                    

Eines der wenigen Fächer, die mir in der Schule Spaß bereiteten, hatte ich zusammen mit Cavyn. Zuerst hielt ich das für einen Segen, da er gestern einen ganz netten Eindruck gemacht hatte, aber gerade zweifelte ich meine Einschätzung an. Vielleicht sollte ich es wohl doch eher als Fluch betrachten.
Ich war noch gar nicht auf der Türschwelle des Raums, da rief Cavyn bereits nach mir. Zusätzlich winkte er mich wie ein Verrückter zu sich. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, dass ich auch tatsächlich verstand, dass er mich neben sich haben wollte. Erst als ich mich neben ihn setzte, schien er zu verstehen, dass ich schon längst begriffen hatte, was er von mir wollte.
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht hieß er mich im Kurs Musik willkommen. "Keine Sorge, mit mir zusammen wird es nie langweilig", versprach er und zwinkerte mir zu.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich das nicht nur auf das Fach Musik einschränkte.
"Dann müsste ich wohl in jedem Fach auf deine Gesellschaft hoffen, außer in diesem", entgegnete ich. Er blickte mich fragend an, sodass ich ergänzte: "Musik kann für mich nie langweilig werden."
"Das freut mich für dich", grummelte er. "Ich musste zwischen Musik und Kunst wählen. Fälschlicherweise hatte ich gehofft, Musik sei die bessere Wahl."

"Ich werde versuchen, dir das letzte Jahr mit Musik so angenehm wie möglich zu gestalten." Nachdem ich meine Sachen ausgepackt und auf den Tisch vor mich gelegt hatte, wagte ich einen Rundblick. Als ich alle möglichen Instrumente um die Tische herum stehen sah, war ich mir sicher, dass meine Augen zu glitzern begannen. Ich war im Paradies. Obwohl ich vorzugsweise diejenige war, die sang, hatte ich kein Problem damit, mich selbst musikalisch zu begleiten. Also ein weiterer Weg, mir die Zeit hier zu versüßen.
Ich überflog rasch die wenigen weiteren Menschen, die im Raum saßen. Keiner kam mir bekannt vor, Cavyn musste also wirklich alleine gelitten haben.
Ich wollte mich schon wieder meinen Sachen zuwenden, als mein Blick an einem Jungen hängen blieb, der mich mit einem breiten Grinsen ansah. Nachdem er realisierte, dass ihm meine Aufmerksamkeit gehörte, zog er die linke Augenbraue spöttisch ein Stück nach oben und sah mich herausfordernd an. Ich legte den Kopf ein wenig schief und fragte mich, ob ich ihn nicht doch irgendwo schon einmal gesehen hatte. Anders konnte ich mir sein komisches Verhalten nicht erklären. Ich glaubte, zu erkennen, dass er mir etwas sagen wollte, wandte mich aber ab und ließ ihn abblitzen.

Überrascht stellte ich dann fest, dass Cavyn mich beobachtet hatte. Und das für ihn ganz untypisch mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. Als wollte er mir nicht verraten, was er empfand. Wir fixierten uns gegenseitig in einer peinlichen Stille. Ich spürte seine Emotionen mir gegenüber, denn er machte sich keine Mühe, sie zu verbergen. Doch ich konnte sie nicht ganz greifen. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, drang ich mental etwas weiter vor und versuchte, mehr über ihn herauszufinden. Was ließ ihn mich so anstarren? Er beobachtete mich taxierend. Abschätzend. Forsch. Wollte er wissen, ob ich eine Gefahr für ihn darstellen würde? Warum brach er den Blickkontakt nicht ab? Warum fühlte sich dieser Blickkontakt ganz anders an, als jener, den ich gestern mit Kian hatte?
Abgelenkt von dem Jungen vor mir, bekam ich nicht mit, wie Cavyn seine Augen von mir nahm und sich kurz schüttelte, als sei er sich selbst nicht sicher, was gerade geschehen war.
Er entschied sich dazu, es nicht anzusprechen. Stattdessen murmelte er ein kurzes: "Entschuldigung."
"Alles okay", erwiderte ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Denn es war das, was sich richtig anfühlte.

Cavyn kratzte sich verlegen am Hinterkopf und suchte stotternd nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Meiner Meinung nach fand er eines vergleichsweise schnell. "Jetzt ist mir eingefallen, was ich dir vorhin noch sagen wollte." Erleichtert lächelte er und war damit auch wieder ganz der Alte. "Normalerweise bin ich nicht alleine in Musik. Dort, wo du gerade sitzt, ist sonst Kians Platz. Der hat aber heute etwas Wichtiges zu tun und ist deshalb von der Schule entschuldigt."
Das genügte, um mich auf meinem Sitzplatz nicht mehr so wohl zu fühlen, wie noch vor dreißig Sekunden. Dann würde ich wohl nächste Woche auf Cavyns anderer Seite sitzen.
Ich schielte an ihm vorbei, um zu überprüfen, ob dort jemand saß. Cavyn verstand offensichtlich, was ich herausfinden wollte. "Ich muss dich enttäuschen. Da sitzt Otta. Sie holt sich noch Kaffee aus der Cafeteria, deswegen kommt sie immer erst kurz vor Unterrichtsbeginn. Aber du könntest dich neben Kian sitzen. Zwar hast du dann nicht die Ehre, direkt mit meiner Gegenwart beleuchtet zu werden, aber du bist noch immer in meiner Nähe, um meine Witze zu hören und darüber zu lachen."
Ich lachte trocken. "Sicher. Ich lache aber nur, wenn sie gut sind. Also wirst du mich wohl nicht oft lachen hören." Ich hob eine Hand an meinen Kopf und vollzog sanfte Kreise auf meiner Schläfe, als ich langsam einsetzende Kopfschmerzen vernahm.

Während Cavyn sich übertrieben entsetzt von meiner Aussage erholen musste, überlegte ich, ob es nicht auch eine Möglichkeit wäre, sich ganz woanders hinzusetzen. Ich hatte nichts gegen Kian, schließlich kannte ich ihn gar nicht. Aber irgendetwas an ihm verunsicherte mich und das konnte ich nicht gebrauchen. Außerdem konnte ich mir das gestrige Vorkommnis noch immer nicht erklären. Zwar ging ich nicht davon aus, dass wir etwas damit zu tun hatten, bevor aber nicht geklärt wurde, was die Ursache gewesen war, schloss ich keine Option aus. Deshalb wollte ich Abstand von Kian. So viel, wie es nur ging.
"Diesen Schlag gegen meine Ehre nehme ich mal ohne Widerworte entgegen, weil du noch als die Neue zählst. Hättest du diesen Status nicht mehr, würde ich dich fertig machen." Um die Entschlossenheit hinter seinen Worten zu verdeutlichen, hob er spielerisch die Fäuste an.

Ich schmunzelte kopfschüttelnd. "Sicher doch. Ich würde gern sehen, wie du es versuchst."
Cavyn sah aus, als wollte er noch etwas erwidern. Jedoch kam im nächsten Moment ein Mädchen in den Raum, das sich neben ihn setzte. Das musste Otta sein. Kurz nach ihr folgte unser Musiklehrer. Mit einem breiten Lächeln warf er aus drei Meter Entfernung seine Aktentasche auf seinen Schreibtisch, trommelte sich vier Mal auf die Brust und fragte dann voller Inbrunst: "Wer hat Lust, Musik zu machen?"
Cavyn stöhnte leise und flüsterte: "Weißt du nun, was ich meine?"
Ich hingegen sah unserem Lehrer erwartungsvoll entgegen. Ich mochte ihn sofort. Sein Blick flog über die Reihen an Schülerinnen und Schülern, die ihm größtenteils alle auswichen, um dann bei mir hängen zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, er sah mich länger an, als er es bei den anderen getan hatte. Doch meine Verwirrung darüber schwand, während er mir zuzwinkerte, als teilten wir beide ein Geheimnis, das keiner erfahren dürfte.

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt