•zweiundzwanzig•

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Kian

Unruhig lief ich auf der Lichtung hin und her. Ich wusste nicht, ob sie kommen würde, hoffte es aber stark. Sie erschien nicht jeden Tag, aber mindestens jeden dritten.
Ich wartete jeden Abend auf sie. Nicht hier, auf der Lichtung. Aber Zuhause. Ich spürte es, wenn sie näher kam, wenn sie nach mir suchte.
Heute war ich dafür zu ungeduldig. Ich wollte direkt bei ihr sein. Ich wollte, dass sie mir erzählte, was sie belastete. Was ihr heute vor Physik widerfahren war, das sie mir verschwieg.
Die Zeit verging langsamer, wenn man sehnsüchtig darauf hoffte, dass jemand erschien. Meine Ungeduld trieb mich soweit, ihr entgegen zu kommen. Ich bemühte mich, nicht mit voller Geschwindigkeit die Distanz zu ihr zu überwinden. Ich musste nicht auch noch die Tiere um mich herum zu Tode erschrecken.
Ich wurde langsamer, als ich ihren Geruch in meiner Nase wahrnahm. Lilien und Schokolade. Der Duft wurde stärker, ohne dass ich mich von der Stelle bewegte. Natürlich könnte es sein, dass ich mir das lediglich einbildete, weil ich so stark hoffte, sie würde meine Gegenwart aufsuchen. Aber in der Ferne hörte ich einige Blätter auf dem Boden rascheln. Und der Rhythmus, den dieses Rascheln versuchte, erinnerte mich sehr an Lilith. So versessen war ich schon darauf, sie in meiner Nähe zu wissen. Ich erkannte sie bereits an ihrem Gang, ihren Bewegungen.
Die letzten Meter ging ich ihr entgegen. Aus einiger Entfernung beobachtete ich sie. Lilith wand sich durch verschlungene Äste, als sei es ein Spiel für sie. Manchmal fragte ich mich, ob die Bäume, Sträucher, sogar die Tiere ihr ab und zu den Weg erleichterten.

Sie schien mit ihnen zu kommunizieren. Nicht auf die offene Art, sodass es jeder hören konnte. Und ich glaubte auch nicht, dass es Lilith selbst auffiel. Aber ihre Bewegungen schienen insbesondere im Wald auf seine Bewohner und Lebewesen abgestimmt sein. Als sei sie ein Glied in diesem vielfältigen Konstrukt und kein Eindringling, wie es die meisten Menschen waren. Jene verstanden die Schönheit des Waldes nicht so, wie es die Wölfe konnten. Sogar Vampire hatten hierfür mehr Verständnis.
Aber Lilith übertrumpfte sie alle. Ohne es wirklich zu wollen und zu wissen, war sie mit der Natur im Einklang.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum es mir manchmal so vorkam, dass sie sich in der Schule nicht wohl fühlte. Es kam bei Weitem nicht an all das hier heran.
Als Lilith so nah war, dass ihr Blickfeld mich erfassen konnte, trat ich auf sie zu. Ich freute mich zu sehr, als sich ihr Gesicht bei meinem Anblick aufhellte.
Sie freut sich nicht, dich zu sehen, erinnerte ich mich. Lilith sah den Wolf, der immer für sie da war. Der ihr zuhörte. Dem sie sich anvertrauen konnte.
Sie sah nicht mich, der sich auch außerhalb des Waldes in anderer Gestalt für sie interessierte.
Während sie die letzten Meter zwischen uns überwand - mittlerweile ohne jegliche Furcht -, fragte ich mich erneut, wie lange ich diese Lüge hier noch aufrechterhalten konnte.

Ich fürchtete, sie würde sich verraten fühlen. Zurecht, denn ich hatte ihr lange vorbehalten, wer ich wirklich war. Was allerdings noch viel schlimmer wäre, wäre, wenn sie den Kontakt zu mir vollkommen abbrach. Weil sie mir nicht mehr vertrauen konnte oder weil sie nicht mehr wusste, was keine Lüge war. Beides war verheerend. Ich wusste, ich musste es ihr irgendwann sagen.
Aber ich konnte nicht. Nicht, weil ich nicht wollte, denn trotz all der möglichen negativen Auswirkungen würde ich die Wahrheit ihr gegenüber gerne bevorzugen, aber weil es mir verboten war.
Ich durfte Lilith nicht über die andere Welt aufklären. Mein Vater hatte es mir verboten, ebenso wie allen anderen Werwölfen. Ich war mir ziemlich sicher, das war auf Johns Mist gewachsen. Sicherlich wollte er seiner Tochter die Wahrheit sagen. Nur fragte ich mich so langsam, wie lange er damit warten wollte. Sie lebte schon seit über einem Monat hier. Irgendwann musste man es ihr sagen.
Wahrscheinlich wollte John aber noch so lange warten, bis sich das Werwolf-Gen in Lilith endlich auslebte. Das war es, wovon er ausging. Aufgrund ihrer menschlichen Mutter brauchte das Werwolf-Gen in Lilith länger. Bei einem normalen Werwolf entwickelte sich die zweite Gestalt meist im vierten Lebensjahr. Dass Lilith darüber nun schon weit hinaus war, interessierte ihren Vater nicht.
Meiner Meinung nach traute er sich einfach nicht, seiner Tochter gegenüber offen zu sein. Leider war meine Ansicht in diesem Falle aber nicht wichtig. Würde Lilith bald doch noch zum Werwolf werden, dann würde sie bei uns aufgenommen werden. Und erst dann wäre der richtige Moment, um ihr zu sagen, dass die Welt in der sie aufgewachsen war, eine Lüge war.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt