•vierundsiebzig•

304 21 0
                                    

Der Brief meiner Mum hatte mir Hoffnung gegeben. Hoffnung, dass ich alles schaffen würde.
Sie war der Grund für meinen heutigen Plan. Heute würde mich nichts aus der Ruhe bringen. Weder mein Musiklehrer, noch Vampire oder Werwölfe. Ich hatte gute Laune und das Gefühl, meine Probleme schon irgendwie bewältigt zu bekommen. Zwar wusste ich noch nicht, wie, aber alles zu seiner Zeit. Heute war Zuversicht angesagt. Morgen würde dann die Planung und übermorgen die Umsetzung folgen.
Mit einem Lächeln im Gesicht verließ ich den Raum nach meiner Mathestunde. Scheinbar meinte das Schicksal es heute gut mit mir, denn auf der Suche nach jemandem, der die Ergebnisse seiner Mathehausaufgaben vorstellen konnte, hatte meine Lehrerin den Schüler ausgewählt, der direkt hinter mir saß. Meine Erleichterung war gar nicht in Worte zu fassen gewesen.

Auf dem Weg nach draußen checkte ich mein Handy auf neue Nachrichten. Die gab es zwar nicht, dafür hatte mich eine unbekannte Nummer angerufen. Zuerst war ich skeptisch, verengte die Augen und runzelte die Stirn. Warum sollte mich eine unbekannte Nummer anrufen?
Schnell erinnerte ich mich an mein heutiges Mantra und entschied, die Person einfach zurückzurufen. Was brachte es mir, groß zu spekulieren?
Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte. Wahrscheinlich einen Mobilfunkanbieter, der mir einen neuen Vertrag aufquatschen wollte. Oder die bedrohliche Stimme eines Vampirs, der mir androhen würde, mich zu zerfleischen.
Aber definitiv nicht Rick, der mit einem seriösen "Guten Tag" meinen Anruf annahm.
Jetzt war ich neugierig. Warum sollte Rick mich anrufen? Ich ging nicht davon aus, dass es um Kian ging. Den hatte ich in der letzten Pause erst gesehen und wenn etwas los wäre, hätte er es mir geschrieben.

"Hallo, Sie hatten mich angerufen", entgegnete ich zögerlich.
Dieser Satz reichte aus, damit er mich erkannte. "Ah, Lilith, schön, dass du mich zurückrufst. Ich wollte dich um ein Gespräch bitten. Nur wir beide. Ich denke, es gibt einiges, über das wir reden müssen."
Oh ja, da war ich mir sicher. Ich hatte nur nicht erwartet, dass er mich dafür persönlich anrufen würde.
"Und um mir das zu sagen, rufen Sie mich extra an? Woher haben Sie überhaupt meine Nummer?"
"Ich wollte das nicht über meinen Sohn arrangieren, da ich mir sicher bin, er würde sofort anwesend sein wollen. Oder mir etwas unterstellen. Ich bezweifle schlichtweg, dass er unserer Konversation zuträglich wäre. Mit deinem Vater wiederum sprichst du nicht viel und ich konnte das Risiko nicht eingehen, du würdest erst übermorgen davon erfahren, dass ich dich heute sehen wollte. Und deine Nummer habe ich von der Schule."
"Ich glaube nicht, dass es okay ist, einfach meine Nummer aus den Daten der Schule zu holen. Haben Sie etwa noch nichts vom Datenschutz gehört?" Der war jedem in der Theorie unglaublich wichtig. In der Praxis sah das Ganze dann nicht mehr so überzeugend aus.

"Ich habe mir das Recht herausgenommen, den für diesen wichtigen Zweck zu umgehen. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht allzu böse."
Mich verwirrte, dass Rick so zuvorkommend und fast schon nett mit mir sprach. Ich ging stark davon aus, dass ihm mittlerweile aufgefallen war, dass etwas aus seinem Arbeitszimmer entwendet worden war. Sicherlich war er klug genug, zu schlussfolgern, wer dafür verantwortlich sein könnte. Dass er dennoch so geduldig und in einem freunlichen Tonfall mit mir sprach, ließ in mir den Verdacht aufkommen, er könnte etwas Bestimmtes von mir wollen.
Da ich heute aber nicht bereits im Vorhinein urteilen wollte, würde ich mich wohl darauf einlassen müssen. "Schon verziehen. Wann wollen Sie mich sehen?"
"Am besten treffen wir uns in der Stadt. Wir könnten uns in ein Café setzen oder einen Spaziergang machen. Nach der Schule?"
Ich willigte ein, wurde aber das Gefühl nicht los, dass es ziemlich offensichtlich war, wie sehr er seinem Sohn aus dem Weg gehen wollte.
Und trotzdem hatte ich die Vorahnung, dass das eine Version von Schwiegertochter-Schwiegervater-Gespräch werden würde, das mir nicht zusagen würde.

¤¤¤

Ich sagte Kian unser Training kurzerhand ab. Natürlich war er sehr interessiert, warum ich es ausfallen ließ, doch ich konnte ihn mit dem Versprechen, ihm später davon zu erzählen und einem Kuss davon abbringen, weiter nachzuhaken. Obwohl ich glaubte, der Kuss spielte hierbei eine größere Rolle.
Rick und ich hatten uns mitten auf dem Markt getroffen und gingen jetzt bereits ein Stück nebeneinander her. Dafür, dass es erst kurz nach Mittag war, war die Innenstadt ziemlich gefüllt. Über tümmelten sich kleine Grüppchen, die miteinander sprachen und aufgeregt zu uns sahen, sobald sie uns bemerkten.
Ich war überrascht, wie viele Leute Rick grüßten oder sogar kurz ansprachen. Was wirklich rührend war, war, dass er auf jeden einzeln einging. Das verdiente ihm sogar ein paar Pluspunkte. Meinem Gefühl nach zu urteilen, konnte er die gut gebrauchen.
Als wir etwas abseits der großen Menge entlang schritten, verstand ich, warum Rick diesen Platz ausgewählt hatte. Es war zwar nicht sonderlich laut hier, aber das einzelne Gemurmel überschattete jeweils ein anderes, sodass es fast unmöglich war, zu hören, was zwei Personen im Speziellen miteinander besprachen.
Hier wurden wir zwar von jedem gesehen, aber von niemandem gehört.
Ich hoffte doch sehr, dass er diesen Ort nicht gewählt hatte, weil er befürchtete, ich könnte ihn angreifen.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und meine Neugierde siegte. "Gibt es einen bestimmten Grund, aus dem Sie mich sehen wollten? Oder möchten Sie nur Zeit mit mir verbringen?"
"Unter anderem möchte ich gerne Zeit mit der Freundin meines Sohnes verbringen, da hast du recht."
"Er hat es Ihnen erzählt?", rutschte mir überrascht heraus.
Ricks Gesicht verhärtete sich. "Nein. Seit du hier bist und er nur noch Zeit mit dir verbringt, vertraut er mir weniger an. Aber es bedarf nur eines gesunden Verstands und einem Paar funktionierender Augen, um zu erkennen, dass zwischen euch keine normale Freundschaft herrscht. Ich nehme an, du bist dir im Klaren darüber, dass es nicht normal ist, eine Seelenverwandtschaft zwischen einem Werwolf und einer Hexe zu haben?" Er warf mir einen interessierten Blick von der Seite zu.
Ich schluckte schwer und gab zu: "Ja, davon habe ich schon etwas gehört. Sie haben nicht zufällig eine Erklärung dafür?"
Er zuckte nur mit den Schultern. "Ich kann dir das Schicksal nicht erklären. Es wird schon einen Grund dafür geben, dass ausgerechnet ihr beide dieses Band teilt. Niemand darf sich herausnehmen, darüber zu urteilen. Auch nicht dein Vater."

Ich überging seinen letzten Kommentar. Wenn Rick schließlich dieser Ansicht war, dann konnte er meinen Vater - seinen besten Freund - doch davon überzeugen. Auf mich schien er schließlich nicht zu hören. Ich war nur seine siebzehnjährige Tochter. Mit Rick hingegen verbrachte er beinahe mehr Zeit als mit Veronica.
"Doch du hast natürlich recht. Das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin." Er räusperte sich und warf mir ein kleines Lächeln zu. "Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Für die Rolle, die ich bei deinem Treffen mit Yadier eingenommen habe."
"Sie meinen, als Sie den Eindruck erweckten, mich schnellstmöglich an den Meistbietenden verkaufen zu wollen? Ja, also schön war das nicht." Ich konnte einfach nicht anders, als ihm genau aufzuführen, was er getan hatte. Nach seinen Worten hörte es sich nach zu wenig an. Als würde er es absichtlich herunterspielen.

"Du musst verstehen, dass ich Pflichten zu erfüllen habe. Ich war mir nicht sicher, welchen Platz du hierbei einnehmen würdest. Deshalb musste ich an die Gesamtheit denken, statt nur an dich im Speziellen. Ich darf mir nicht erlauben, einen Fehler zu machen."
Diese Leier hatte ich schon zu häufig gehört. "Das ist ja schön zu hören. Für mich klingt das aber mehr nach einer Ausrede, statt nach einer Entschuldigung. Und die hilft mir nicht weiter."
Der Blick, den Rick mir zuwarf, verdeutlichte sehr gut, dass ich eine Liga zu weit oben spielte. Aber ich stand zu meinen Worten. Es war nicht ausreichend, zu sagen, dass man sich entschuldigen wolle, dann aber stattdessen eine Erklärung abzugeben.
"Verzeihung." Es war nicht viel, aber es genügte.
Ich nickte anerkennend. "Dankeschön, das bedeutet mir viel. Woher der plötzliche Sinneswandel?"
"Ich befürchte, ich habe dich unterschätzt. Ich bin mir gar nicht sicher, warum. Aber irgendwie habe ich wohl nicht damit gerechnet, welche Stärke und Willenskraft in dir steckt", offenbarte Rick und wandte den Blick ab, als wollte er sich diese Schwäche nicht zugeben. Allerdings hatte er mir gleichzeitig geschmeichelt, deswegen war ich mir da nicht so sicher.
"Ist Ihnen das nach dem Treffen aufgefallen oder erst, als ich Ihnen entwendet habe, was nie Ihnen gehört hat?"

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt