•sechsundneunzig•

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Für mich war es zur Tradition geworden, dass ich in der Stadt spazierte, während ich mit meiner Oma telefonierte. Es war die perfekte Möglichkeit, mit ihr zu reden, mich gleichzeitig zu bewegen und andere Leute beobachten zu können. Cody hatte ich selbstverständlich mit mir genommen. Er ging brav an meiner Seite und blickte ebenfalls neugierig umher. Es war nicht sehr viel los in der Stadt. Ich vermutete, dass das an dem guten Wetter lag und viele deshalb woanders unterwegs waren. Obwohl wir bereits November hatten, waren die Temperaturen auf fünfzehn Grad angestiegen. Dazu schien die Sonne schon seit heute früh. Es war so angenehm draußen, dass ich schon entschieden hatte, auch nach dem Telefonat mit meiner Oma weiter zu spazieren. Ich wollte das gute Wetter nicht von drinnen aus meinem Zimmer heraus beobachten. Ich wollte es genießen.
"Ich glaube, Lindsay machte sich über mich lustig. Oder besser gesagt über meinen Kuchen. Das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen."
"Absolut nicht", stimmte ich ihr zu.

Nachdem ich ihr von meinem Leben erzählt hatte - sie wollte besonders viel über Kian erfahren -, hatte sie angefangen, über ihren letzten "Seniorentreff", wie sie es so liebevoll nannte, zu berichten. Scheinbar war eine neue Frau hinzugekommen, Lindsay, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, meine Oma zu reizen.
"Deswegen habe ich sie kurzerhand gefragt, was sie uns denn mitgebracht hätte. Was natürlich eine blöde Frage war. Es war ein Kuchentreff. Jeder von uns hatte einen eigenen Kuchen gebacken. Sie schien mir sehr irritiert, meinte aber, ihr Kuchen sei ein Schokokuchen. Daraufhin spielte ich ganz erstaunt und sagte ihr, dass ich das gar nicht erkannt hätte. Ich sagte ihr, dass ich gedacht hatte, ihren eigentlichen Kuchen hätte sie uns noch nicht gezeigt, denn das, was sie mitgebracht hätte, sähe so aus, als hätte es sogar ein Hund besser hinbekommen."

Ich stieß ein kurzes Lachen aus und zweifelte kurz daran, ob sie mich auf den Arm nehmen wollte. Allerdings hatte sie die Geschichte so trocken erzählt, dass es nur die Wahrheit sein konnte. Abgesehen davon traute ich es ihr durchaus zu, so gemein zu anderen zu sein. Das hatte sie in der Vergangenheit schon bewiesen.
"Die arme Frau. Hat sie sich von dem Schock erholt?", wollte ich wissen.
"Ich denke schon", antwortete meine Oma unbeteiligt. "Auf jeden Fall hat sie sich danach nicht noch mal mit mir angelegt."
Ich schüttelte amüsiert den Kopf. "Wie ist dein Kuchen denn bei den anderen angekommen?"
"Sehr gut. Alle haben mich gelobt. Obwohl die Feedbackrunde zugegebenermaßen erst nach diesem Vorfall stattfand", erklärte sie mir zögerlich. "Es könnte also auch sein, dass alle so verschreckt waren, dass sie sich nicht trauten, etwas anderes zu sagen."
"Ach, das kann ich mir nicht vorstellen", entgegnete ich ein wenig ironisch. "Deine Kuchen sind immer die besten."
"Ja, da hast du wohl recht."

Wir sprachen noch etwa ein Viertelstunde, in der ich weiter durch die Stadt schlenderte. Dann wurde Cody unruhig. Zuerst guckte er gehetzt durch die Gegend. Dann rieb er sich an meinen Beinen und wechselte immer wieder von der einen zu der anderen Seite. Ich beobachtete das eine Weile irritiert, bevor ich mich dazu entschied, eine Pause von unserer ständigen Bewegung zu machen und mich mit ihm etwas abseits stellte. Doch auch dort wurde er nicht ruhiger. Ich verstand sein Verhalten nicht. Menschenmengen machten ihm sonst nie etwas aus. Und auch sonst war die Stunden davor noch alles in Ordnung gewesen. Was hatte sich plötzlich geändert?
"Nun gut, meine Liebe, ist bei dir auch so schönes Wetter? Ich glaube, ich werde jetzt noch ein bisschen rausgehen", teilte meine Oma mir mit.
"Ja, hier ist es auch sehr schön. Ich genieße das Wetter ebenfalls schon."
"Das ist gut. Bewegung ist wichtig für den Körper."
Ich schmunzelte. "Ja, ich weiß."
"Dann bis zum nächsten Mal, Lilith", verabschiedete sie sich von mir.
"Tschüss, bis dann."

Kaum hatte ich aufgelegt, begann Cody, mich anzubellen. Verwirrt kniete ich mich vor ihn und strich mit meinen Händen durch sein Fell.
"Was ist los? Was hast du?"
Immer wieder suchten seine Augen die Menge vor uns ab. Dann schien er gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte und fing an, zu knurren. Ich folgte seinem Blick und versuchte zu erkennen, was ihn so mitnahm. Doch natürlich sah ich nichts.
Schließlich entschied ich mich dazu, Cody die Dinge zu überlassen. Während sein Blick noch immer in die Ferne gerichtet war, flüsterte ich ihm bestimmt zu: "Zeig es mir."
Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Cody schoss los und hetzte durch die Leute hindurch. Ich gab mein Bestes, ihm zu folgen und erntete dafür mehrere böse Blicke von Passanten, gegen die ich stieß.
Selbst mein schnelles Laufen nützte jedoch nichts. Ich verlor ihn trotzdem aus den Augen. Als er nicht weit entfernt wieder zu bellen begann, konnte ich seine Spur wieder aufnehmen.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt