•achtundsechzig•

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Meine Mum war ermordet worden. Umgebracht von den Wesen, die mich hatten entführen wollen. Zumindest, wenn Yadier die Wahrheit sagte. Ich vertraute ihm nicht genug, um davon blindlings auszugehen. Aber ich glaubte ihm, dass sie nicht auf natürlichem Wege gestorben war.
Aber war das wirklich so überraschend? Meine Mutter war kerngesund und definitiv noch zu jung gewesen, um am Alter zu sterben. Sobald ich erfahren hatte, dass sie wie ich eine Hexe war, hätte ich mich mit der Vorstellung auseinandersetzen müssen, erneut mit ihrem Tod konfrontiert zu werden.
Ich hatte nur nicht erwartet, dass es ausgerechnet jetzt passieren würde. Es lagen so viele Augenpaare auf mir, die jede meiner Bewegungen zu deuten versuchten. Da konnte ich mir keine Schwäche erlauben und mir meine Gefühle wegen Yadiers Offenbarung nicht anmerken lassen. Dafür genoss er das Ganze zu sehr. Ich war mir sehr sicher, dass er sich genauestens überlegt hatte, wann er diesen Kommentar abließ. Er wollte mich unbedingt bloßstellen. Nur verstand ich nicht, warum? Lag es wirklich nur an meinem Wesen? Oder hatte er möglicherweise eine Vorgeschichte mit meinen Eltern?

"Was werdet Ihr nun mit Lilith machen?" Es war das erste Mal, dass Rick sprach und dann fragte er ausgerechnet das?
Vor allem klang es nicht gerade so, als stünde Kians Vater auf meiner Seite. Seine Frage ließ eher vermuten, dass ihm viel daran lag, mich so schnell wie möglich loszuwerden. Ich hoffte sehr, dass mein Eindruck trog.
Kians Griff um meine Hand verstärkte sich. Ich war mir nicht sicher, ob er mir damit seinen Zuspruch zeigen oder eher seine Verwirrung und Wut bezüglich Ricks Frage zum Ausdruck bringen wollte.
"Sehr gute Frage." Yadier nickte Rick anerkennend zu. Ich glaubte allerdings, auch einen kleinen Funken Trauer wegen des raschen Themenwechsels in seinen Augen zu erkennen. "Ihr wisst ja, wie sehr wir Hexen schätzen. Und dass Ihr eine in Euren Reihen habt, vereinfacht unsere Lage natürlich. Ich kann schließlich davon ausgehen, dass sie einen gewisse Neigung gegenüber Werwölfen verspürt. Sonst würde sie nicht mehr mit Euch leben."

Wahrscheinlich war es besser, ihm nicht von meinen damaligen Fluchtplänen nach meinem achtzehnten Geburtstag zu erzählen. Und wie wenig erfreut ich gewesen war, als ich zum ersten Mal verstanden hatte, dass meine geglaubte heilige Welt ganz und gar nicht der Realität entsprach. Besser ich ließ ihn in dem Glauben, dass ich alles hieran liebte.
"Dementsprechend wäre es am simpelsten für alle Beteiligten, wenn wir Miss Kelman mitnehmen und sie dem König präsentieren. Im Folgenden kann sie uns zeigen, was sie bereits beherrscht. Obwohl sie, soweit ich weiß, noch eine Anfängerin ist. Wir bieten uns natürlich freundlicherweise an, mit ihr an ihren Kräften zu arbeiten."
Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass der Mann wirklich dachte, er würde mir mit all dem einen riesigen Gefallen tun. Was nicht der Fall war.
Die Tatsache, dass hier über meine Zukunft gesprochen wurde, als wäre ich gar nicht anwesend und hätte erst recht kein Mitspracherecht in dieser Thematik, störte mich ungemein.

Fast so sehr, wie die Idee, Sellwyll mit all seinen Bewohnern sofort zu verlassen, um irgendwohin zu reisen und mich dann jemandem zu präsentieren. Was mir mal wieder das Gefühl gab, man wäre im Mittelalter stehen geblieben. Ich war doch keine Puppe, die man einmal im Kreis drehte, um sie auch ja von allen Seiten begutachten zu können. Das war ja lächerlich.
"Sie würden sie jetzt sofort mitnehmen wollen?" Rick klang ungläubig und ich konnte nicht fassen, dass es der Zeitpunkt war, der ihn störte.
"Sicherlich. Ich habe großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Ich weiß nur zu gut, wozu ihre Mutter in der Lage war. Dementsprechend kann ich erwarten, dass sie Großes vollbringen wird. Das wird den König sehr freuen. Wir müssen also keine Zeit mit weiterem Unsinn verschwenden."
"Sie hat übrigens nicht das geringste Interesse, irgendwo hinzugehen, außer in ihr Bett. Falls irgendjemand wissen will, was sie von der ganzen Sache hält."

Yadier warf mir einen abschätzigen Blick von der Seite zu, bevor er sich wieder abwandte und erneut Rick ansah.
Was war es bloß mit Männern, die glaubten, über mich entscheiden zu können? Zu gerne würde ich wissen, warum sie glaubten, sie hätten das Recht dazu. War es, weil sie mich für schwach hielten? Oder für zu jung, um die richtigen Entscheidungen zu fällen?
Der Druck von Kians Daumen auf meiner Hand verstärkte sich erneut, sodass ich verwundert zu ihm sah. Er sah lange und sehr deutlich zu meiner anderen Hand, die ich unbewusst zu einer Faust geballt hatte und aus der tatsächlich Rauch aufstieg. Rasch lockerte ich meine Hand und wedelte ein wenig mit ihr herum, damit hoffentlich niemandem auffiel, dass ich schon wieder kurz davor gewesen war, etwas zu zerstören. Obwohl ich mir größte Mühe gegeben hätte, Yadier zu treffen.
Kian schenkte mir ein kleines Lächeln und wandte seine Aufmerksamkeit danach wieder den beiden Männern zu, die tief in ihr Gespräch versunken waren.

Kians Augen verengten sich. Wie gerne würde ich hören, worüber die beiden sprachen. Unbewusst lockerte ich meine Körperspannung, sodass ich mich an Kian anlehnen konnte, der mein Gewicht, ohne auch nur zu zucken, hielt. Völlig egal, was die beiden beschlossen. Ich war mir sicher, dass Kian nicht zulassen würde, dass sie etwas taten, was ich nicht wollte. Auch wenn er zweifellos in der Minderheit war. Er würde nicht aufgeben und immer für mich da sein. So wie meine Freunde es beschrieben hatten, als sie über Seelengefährten gesprochen hatten. So wie Kian sich schon immer mir gegenüber verhalten hatte.
"Ich muss Euch unterbrechen", teilte Kian den Anwesenden mit klarer Stimme mit.
Ihm schenkte Yadier seine ungeteilte Aufmerksamkeit. "Dir ist wohl nicht bewusst, dass du keinerlei Mitspracherecht ha-"
"Doch, das weiß ich. Es ist mir nur egal. Lilith wird nirgendwo mit Ihnen hingehen. Ganz bestimmt nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft, wenn sie das nicht will. Außerdem geht sie sowieso noch zur Schule. Sie haben nicht das Recht, ihr ihre Bildung zu verweigern, nur um sie für Ihre Zwecke auszunutzen."

"Ich glaube, du hast einen falschen Eindruck, was wir mit deiner Hexe anstellen werden. Wir werden ihr schon kein Haar krümmen." Serena schmunzelte. Ihr war schon längst aufgefallen, dass Kian und ich uns nicht wie Fremde verhielten. Und dass wir irgendwie auch mehr als nur Freunde waren.
"Können Sie mir das versprechen?" Kians Stimme war fordernd und seine braunen Augen waren wieder auf Yadier gerichtet.
"Benötigst du wirklich ein Versprechen? Wir sind eine Art. Kannst du uns nicht so vertrauen?" Yadier mochte ein geschickter Manipulator sein, doch es gelang ihm nicht, Kian und mich zu verarschen.
Natürlich war uns aufgefallen, wie geschickt er Kians Frage umgangen war.
"Nicht in diesem Fall."

Diese Aussage veränderte die Situation im Raum. Der Sekretär krümmte sich ein wenig zusammen. Serenas Finger strichen bedenklich langsam über ihre Hüfte, während sie Kian musterte. Der andere Mann, dessen Namen ich noch nicht kannte, verschränkte die breiten Arme vor der Brust. Rick musterte seine Sohn mit kaum geweiteten Augen, schien aber nicht weiter verwundert über sein Verhalten zu sein.
Yadier hingegen richtete sich auf und strich seinen Kleidung glatt, bevor er auf Kian zuging und kurz vor ihm - und damit auch mir - zum Stehen kam.
"Soll das etwa heißen, du stellst sie über deine Leute? Über deine Freunde? Deine Art?" Seine Stimme klang drohend.
Ich schien irgendwann nicht richtig mitgekommen zu sein. Das hatte er doch überhaupt nicht gesagt.
"Das heißt es."
Jetzt hatte er es gesagt.
Yadiers blaue Augen fanden meine. "Interessant." Er legte den Kopf schief und musterte mich, als wäre ich nun noch interessanter geworden.

Ich begegnete seinem Blick mit Trotz und Stärke. Es gab für mich keinen Grund, mich klein zu machen. Ich konnte ihn schneller aus diesem Haus werfen, als er "A" sagen konnte. Und ich würde mich ganz sicher nicht von ihm herumschubsen lassen. Und wenn ich allen magischen Wesen auf diesem Planeten weismachen musste, dass sie keine Gewalt über mich hatten. Ich würde es tun.
Yadier rümpfte die Nase. Dann drehte er sich abrupt um und sprach wieder nur zu Rick: "Wir werden uns erst einmal mit dem König besprechen. In der Tat ist Miss Kelman natürlich noch an ihre Schule gebunden. Wir schätzen Bildung. Auch wenn sie nicht immer dem Richtigen zukommt." Der Hieb war ganz offensichtlich an mich gerichtet. "Allerdings könnt ihr bald wieder mit unserer Ankunft rechnen." Ein letztes Mal noch schaute er zu Kian und mir. "Das hier ist noch nicht vorbei."
Vielleicht war es meine Sturheit oder mein Trotz. Vielleicht mein kindliches Ich, das kurz die Zügel übernahm und sich beweisen wollte. Ich konnte nicht anders, als Yadier mit starrem Blick anzusehen und lodernde Flammen in meinen Augen erscheinen zu lassen. Sie hoben sich gut von dem dunklen Ton meiner Augen ab. Natürlich waren sie nicht real. Aber das kleine Spielchen gefiel mir sehr, denn es verfehlte nie seine Wirkung. "Ich freue mich schon auf das nächste Mal."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt