•fünfzehn•

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Kian

Ich spielte die Situation immer und immer wieder in meinem Kopf durch. Erfolglos. Nie fand ich eine Erklärung für das, was nach meinem Gespräch mit Lilith geschehen war. Ich wusste, ich hatte einen Nerv getroffen, als sie anfing, lauter zu werden und plötzlich nicht mehr das emotionslose Mädchen wie sonst zu sein. Mir gefiel die gereizte, wütende Version von ihr deutlich besser als die andere. Die ruhige Lilith tat, als interessiere sie nichts und niemanden. Also ungefähr jenes Verhalten, mit dem sie uns - vor allem mich - nach unserem Ausflug in die Stadt strafte. Zumindest fühlte es sich für mich wie eine Strafe an. Nachdem ich das Gefühl hatte, endlich mal einen Weg zu ihr gefunden zu haben, sperrte sie mich erneut aus.
Ich konnte es ihr nicht verdenken. Seit sie hier angekommen war, machte sie keine Anstalten zu verbergen, sie wäre überall lieber als hier. Was mich interessierte, war, warum sie diesen Ort als so schlimm empfand. Abgesehen davon, dass die Einwohner hier einige Geheimnisse zu hüten hatten, waren sie nicht gerade die unfreundlichsten. Und auch sonst versuchten viele, Lilith den Einstieg in ihr Leben hier so einfach wie möglich zu gestalten. Angefangen mit Veronica, Beah, aber auch Cavyn, der Lilith ziemlich schnell in sein Herz geschlossen hatte. Doch selbst das schien nicht zu genügen, damit sie sich hier besser einlebte.

"Kian." Die harte Stimme meines Vaters riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte aufgehört zu essen und beobachtete mich stattdessen. Seine Augenbrauen waren sorgenvoll zusammengezogen. Sein Gesichtsausdruck stand im Kontrast zu seinem Tonfall. Nicht verwunderlich, denn die Jahre als Anführer hatten ihn nicht nur müde gemacht, sondern auch einfühlsam und durchsetzungsfähig werden lassen.
"Verzeihung." Ich runzelte die Stirn, bevor ich weiter aß.
Aber das veranlasste Dad nicht dazu, seinen sorgenvollen Blick von mir zu nehmen. "Was ist los mit dir? In letzter Zeit bist du häufig nicht bei uns, sondern ganz woanders. Was beschäftigt dich?"
Mum lächelte mir aufmunternd zu, während sie sich erneut auffüllte.
Tatsächlich würde ich meine Gedanken bezüglich Lilith lieber für mich behalten. Denn mein Vater hatte recht. In letzter Zeit dachte ich wirklich ziemlich häufig an sie. Und das konnte nicht gesund sein. Es erschien mir schon, als hätte ich eine Besessenheit bezüglich ihres Wohlergehen hier. Vielleicht fühlte ich mich auch verantwortlich, weil sie zu meinem Freundeskreis gehörte.

Gleichzeitig war Lilith aber auch die Tochter des Beraters meines Vaters. Und ich wollte nicht riskieren, dass Dad ihm verriet, was ich ihm anvertraute. So wie Mr. Kelman manchmal über seine Tochter sprach, hatte ich nicht gerade dein Eindruck, die beiden teilten eine besonders gute Beziehung. Aber das ging mich natürlich nichts an. Daran musste ich mich immer wieder erinnern. Ich konnte meine Nase nicht einfach in Lilith Angelegenheiten stecken, nur weil mich ihr Geruch, ihre bloße Anwesenheit in den Bann fesselte. Das gab mir kein Recht, irgendwelche Ansprüche ihr gegenüber zu erheben. Hauptsache, ich wusste das auch noch, wenn ich in Wolfsgestalt war.
Da hatte ich bereits einmal die Kontrolle verloren. Das geschah mir nicht noch einmal. Ich verlor nicht die Kontrolle, ich hatte alles im Griff und das würde auch so bleiben. Auch Liliths Verständnis und ihre offensichtliche Einfühlsamkeit gegenüber Tieren würde nicht an meiner Entschlossenheit rütteln.
Obwohl ich nicht verstand, wie man so verschlossen zu Personen, aber so offen und freundlich zu Tieren sein konnte.

"Es ist nur die Schule", versicherte ich meinen Eltern mit einem überzeugenden Lächeln. "Zusammen mit Liliths Ankunft hier und dem Vollmond vor ein paar Tagen war alles ein bisschen viel, aber jetzt wird es besser, da bin ich mir sicher."
"Du hast das alles grandios gemeistert, Kian. Trotz deines jungen Alters hast du alles optimal auf die Reihe bekommen." Meine Mutter lehnte sich ein wenig zu mir herüber, um mir sanft über den Handrücken zu streicheln.
Richtig, ich hatte alles hinbekommen. Bis auf meinen emotionalen Ausbruch in der Vollmondnacht und dass skurrile Dinge in den letzten Tagen geschehen war, die sich niemand erklären konnte.
"Deine Mutter hat recht. Du kannst stolz auf dich sein." Die Zustimmung meines Vaters ließ mich schmunzeln. Er wusste, dass ich einige Fehler gemacht hatte, entschied sich aber dazu, erst einmal meinen Erfolg zu beglückwünschen. Auch zu Hause konnte er sein Alpha-Gehabe nicht ablegen. Erst etwas Positives anbringen, bevor man etwas kritisiert. "Dennoch solltest du nicht vergessen, dass später, wenn du meinen Platz einnimmst, es immer viel zu tun gibt. Drei Dinge auf einmal erledigen zu haben, ist ein Klacks zu dem riesigen Stapel, den ich regelmäßig auf meinem Schreibtisch zu liegen und abarbeiten habe."

"Rick", Mum strafte ihn mit einem bösen Blick, "daran wird er sich schon noch gewöhnen." Sie richtete sich wieder an mich. "Abgesehen davon hast du viele Leute, die dir nur zu gerne helfen und dich in allem unterstützen, bei dem du Hilfe brauchst."
"Natürlich, das hätte ich doch noch hinzugefügt." Mein Vater bedachte sie mit einem Grinsen, das so wild und jung wirkte, dass ich mich nicht wunderte, als Mum verlegen den Blick abwandte. "Die größte Hilfe, die du nur haben kannst, ist deine Seelengefährtin oder dein Seelengefährte. Sie sind deine fehlende Hälfte, diejenigen, die dich-"
"Glücklich machen werden." Ich rollte die Augen. "Ich weiß, Dad. Das habt ihr mir schon sehr oft gesagt. Ich habe es bereits beim ersten Mal verstanden und verinnerlicht. Aber trotzdem danke für eure Ratschläge."

Dad rümpfte die Nase angesichts meiner Antwort, entschied sich aber dazu, mich nicht weiter mit diesem Thema zu nerven. Seelengefährten. Das Wichtigste in deinem Leben, so sahen es zumindest die Werwölfe. So weit ich wusste, nahmen es Vampire beispielsweise mit den Seelengefährten nicht so genau. Klar, einige konnten schon besitzergreifend bezüglich dieses Bandes zwischen zwei Personen reagieren, aber andere wiederum lebten das Prinzip des Teilens auch hier aus.
Für Werwölfe jedoch waren Seelengefährten schon fast etwas Heiliges. Man sagt, für diese eine Person würde man alles tun, alles aufgeben, in dem Wissen, dass es sie glücklich machen würde. Ich konnte nur von außen beurteilen, inwieweit dieses Gerücht zustimmte, denn meine Eltern lebten es mir tagtäglich vor. Ebenso wie meine Schwester, die für die Liebe ihres Lebens sogar unser Rudel verlassen hatte. Eine Entscheidung, die, obwohl sie für alle Beteiligten doch sehr schwer war, für alle nachvollziehbar war.
Nach dem Abendessen räumten wir zusammen auf, bevor ich mich entschuldigte und auf mein Zimmer ging. Allein in der Stille meines Raumes hielt mich nichts davon ab, wieder zu Lilith zurückzukehren. Ich fragte mich, warum ich ihrer offensichtlichen Aufforderung, ich solle mich von ihr fernhalten, nicht einfach Folge leisten konnte.
Nach fünfzehn Minuten kam ich zu dem Entschluss, dass mich meine Gedanken zu nichts brachten und griff zu der einzigen Möglichkeit, sie auszuschalten. Ein Ausflug in den Wald.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt