•einhundertdrei•

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Kian

Ich schwankte zwischen Licht und Dunkelheit. Immer wieder wurde ich zurück in die Lagerhalle geholt, bevor mich ein neuer Schmerz näher in die Schwärze zog. Es war, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren. Als folgte ich wie ein treuer Hund einer unsichtbaren Hand, die mit mir spielte. Es machte das Leben einfacher. Diese Willenlosigkeit. Machte den Schmerz erträglicher.
Doch es war Liliths Stimme, die mich zum Kämpfen anregte. Die mir befahl, dagegen anzukämpfen. Ich musste bei ihr bleiben. Sie brauchte mich.
Und so ertrug ich jeden weiteren Schlag, jeden weiteren Tritt. Es war nichts im Vergleich zu der Vorstellung, Lilith leiden zu sehen.
Trotz dieser unerwünschten Situation war ich doch froh, dies nicht alleine durchstehen zu müssen. Natürlich wollte ich unbedingt, dass Lilith nicht hier war. Dass sie in Sicherheit war. Dennoch konnte ich nicht anders, als dankbar dafür zu sein, gerade nicht alleine zu sein. Selbst wenn es hier enden sollte, wäre Liliths Gesicht das Letzte, was ich sehen dürfte. Und auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mein gesamtes Leben mit ihr verbringen zu dürfen, so wäre das ein Ende, mit dem ich zufrieden wäre.

"Schön hier bleiben, Kian. Ich bin noch nicht fertig mit dir", flüsterte mir Yadier zwischen seinen Schlägen zu.
Wahrscheinlich wusste er, welche Gratwanderung ich gerade vollzog. Doch er konnte es sich nicht leisten, mich umzubringen. Dann würde Lilith ihm niemals folgen. Das wusste er.
Mein müder Blick sah zu ihr. Ihre roten Haare ergossen sich wie Lava über den dreckigen Hallenboden. Ihr Mund zitterte, als sie aufschluchzte.
Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht, dass sie litt. Ich wollte, dass sie lachte und mich anlächelte. Dass sie mir noch ein Mal sagte, dass sie mich liebte.
Ich schämte mich, sie in diese Position gebracht zu haben. Wäre ich mit dem Vampir anders umgegangen, wäre es vielleicht nie hierzu gekommen. Hätte ich ihm nicht alleine gegenüber treten wollen. Alleine hatte ich keine Chance gegen ihn gehabt. Ich hatte es gerade noch so über mich gebracht, mich zurück in einen Menschen zu verwandeln. In meiner Wolfsform kam ich mir zu verletzlich vor.
Wäre ich von Anfang an auf die Idee gekommen, dass Jeremys Boss und Yadier zusammen arbeiteten, wäre ich nicht so unvorsichtig gewesen. Ich hätte mein Vorgehen anders geplant. Doch ich war nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet diese beiden als Partner zu sehen. Obwohl beide verrückt genug waren, um ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen.
Doch im Nachhinein war man immer schlauer. Und jetzt war es zu spät.

Ich musste dafür sorgen, dass Lilith sicher war. Wenn ich gerade schon nicht für mein eigenes Wohlergehen sorgen konnte, dann war das das Mindeste, was ich bewältigen musste.
Wenn ich eines wusste, dann, dass sie bei Yadier zwar sicher, aber nicht glücklich wäre. Natürlich wäre das gerade die einfachste Option. Doch keine, mit der sie ein Leben lang klar käme. Auf Dauer wäre sie höchstwahrscheinlich auch bei ihm nicht sicher. Wie lange würde es wohl dauern, bis er etwas von ihr verlangte, das sie das Leben kosten würde? Die Macht einer Hexe hatte ihren Preis. Das wusste jeder. Verbrauchte eine Hexe zu viel ihrer Macht in zu kurzer Zeit, konnte es sie das Leben kosten.
Yadier war ohne Zweifel machthungrig. Jetzt brauchte er sie vielleicht noch. Doch irgendwann wäre der Punkt gekommen, an dem er zu viel von ihr verlangen würde.
Und wenn sie nicht schon vorher untergegangen wäre aufgrund der Dinge, die er von ihr verlangt hatte, dann wäre das zweifelsfrei der letzte Schlag, der sie vernichten würde.
Ganz abgesehen davon, dass Yadiers Absichten widerwärtiger sein könnten, als wir es bisher vermutet hatten. Was auch immer zwischen Liliths Mutter und ihm damals vorgefallen war, ich hatte nicht das Gefühl, dass er bereits damit abgeschlossen hatte. Was würde ihn also daran hindern, seinen Frust und seine anderen Emotionen einfach an Lilith auszulassen?

Sie musste nur diesen einen Punkt erreichen, um ihre Macht anzuwenden. Diesen einen Punkt, der sie dazu bringen würde, alles und jeden zu vernichten. Um sich selbst zu retten. Um Yadier aufzuhalten.
Ich glaubte, dass jeder Schlag, den Yadier mir zufügte, jeder Tritt, der meinen Körper verletzte, sie näher an diesen Punkt brachte.
Schaute ich in ihre dunklen Augen, erblickte ich ihre Verzweiflung, ihre Scham und Wut. Ich wusste, dass irgendwo in ihr drin ihr Kampfgeist lauerte. Sie musste ihn nur finden. Zulassen, dass er sie einnahm.
Sie durfte keine Angst vor sich selbst haben. Sie musste sich nur so sehen, wie ich es tat, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte.
Lilith war so verloren gewesen. Nicht nur an der Schule, sondern in ihrem Leben. Sie hatte nicht gewusst, was sie in den kommenden Jahren ihres Lebens anstellen sollte. Eigentlich hatte sie nicht gelebt. Sie hatte nur überlebt.
Doch sie hatte es geschafft, sich aus diesem Loch zu befreien. Vielleicht hatte ihr ihr Dasein als Hexe neue Hoffnung gegeben. Vielleicht waren es ihre Freunde und Familie gewesen. Vielleicht war es ihr Unmut, ihr Leben als Passagier an sich vorbei streichen zu lassen.
Ich hatte sie schon damals dafür bewundert, keine Angst zu verspüren vor allem Neuen, das sie kennenlernte. Sie hatte sich allem mit offenen Auge in den Weg gestellt. Es bedurfte Mut, sich so etwas zu trauen. Mut, der die Welt verändern konnte. Und ich trauerte um jeden, der das nicht sehen konnte. Ich trauerte um jeden, der es wagte, sie zu unterschätzen.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt