•siebenundachtzig•

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Kian

Lilith presste sich eng an mich. Obwohl ich diese Nähe sehr zu schätzen wusste, konnte ich sie in diesem Moment wenig genießen. Meine Sorge war zu groß. Und dass Lilith nicht sprach und mir nicht erzählte, was sie belastete, verbesserte die Situation nicht gerade.
Dennoch drängte ich sie nicht von mir, um sie zu befragen. Wenn sie nicht darüber sprechen wollte, dann war das ihre Entscheidung. Sie würde sich mir anvertrauen, wenn sie dazu bereit war.
Ich spürte, wie sich ihr Atem beruhigte, umso länger sie an meiner Brust lag. Ein feines Lächeln zog sich in meine Mundwinkel. Es war beruhigend, zu wissen, dass ich einen beinahe genauso großen Einfluss auf sie hatte wie sie auf mich.
Nachdem wir etwa zehn Minuten in einer unbequemen Position verweilt hatten, setzte ich mich mittiger auf das Bett und lehnte mich dann nach hinten, bis ich an ihrer Wand lehnte, mit ihren Kissen in meinem Rücken. Lilith zog ich mit mir, sodass sie sich komplett auf mich legen konnte, was sie auch tat.

So lagen wir eine ganze Weile. Mitunter musste ich aufpassen, nicht einzuschlafen. Selten hatte ich so gemütlich gelegen und mich währenddessen so wohl gefühlt.
Irgendwann hob Lilith ihren Kopf und sah mich an. Dennoch dauerte es, bis sie zu sprechen begann.
"Woher hast du es gewusst?"
Ich vermutete, dass sie wissen wollte, wieso ich auf die Idee gekommen war, es würde ihr nicht gut gehen.
"Es ist schwer zu erklären. Ich habe es einfach geahnt. Vielleicht war es auch ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, stand ich schon an deiner Haustür." Ich legte meine linke Hand vorsichtig auf ihren Hinterkopf und begann, sie dort zu massieren. "Es war instinktiv."
Sie nickte verstehend. Mit geschlossenen Augen fragte sie: "Ist das ein Vorteil von der Seelenverwandtschaft?"
"Wenn man es als Vorteil sehen möchte, ja."

"Wieso sollte es kein Vorteil sein?"
"Man kann nicht beeinflussen, wann man etwas von seinem Seelengefährten fühlt. Deswegen lässt es sich schwer sagen, ob es in bestimmten Situationen häufiger auftritt als in anderen. Aber ich glaube, dass es vor allem passiert, wenn der andere ein sehr starkes Gefühl verspürst. Das beschränkt sich natürlich nicht nur auf Freude oder Trauer. Schmerz kann auch dazu gehören."
Lilith öffnete ihre Augen. "Ich würde spüren, wenn du verletzt wärst?"
"Ich denke schon", stimmte ich ihr zu. "Aber mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit kann ich dir das nicht sagen."
Das machte sie nachdenklich. Währenddessen fiel mein Blick auf Cody, der am Ende des Bettes ruhte. Er lag dicht neben einem Buch, von dem ich vermutete, zu wissen, worum es sich handelte. War das Buch ihrer Mum Liliths Auslöser gewesen?
Vorsichtig tastete ich mich an das Thema daran. "Möchtest du darüber sprechen?"
Sie stockte und hielt kurz den Atem an, bevor sie langsam wieder ausatmete. Danach stützte sie ihr Kinn mit ihren Händen und begann zu erklären: "Ich schaffe das nicht."

Ich runzelte die Stirn. "Was meinst du?"
"Einfach alles. Ich bin nicht dafür gemacht, diese ganze Erwartung und den Druck zu tragen."
"Dann musst du das nicht."
Sie stieß ein kurzes, ungläubiges Lachen aus. "Ich glaube nicht, dass es so einfach ist."
"Natürlich ist es das. Warum solltest du etwas tun müssen, was du gar nicht möchtest? Sag mir, was dich stört und wir arbeiten daran."
Ich konnte einen kleinen, inneren Freudensprung nicht unterdrücken, als sie mich anlächelte.
"Ich möchte ja helfen. Ich möchte die Personen retten, die mir am Herzen liegen. Ich möchte eine gute Hexe sein. Eine gute Seelengefährtin. Doch ich weiß nicht, wie."
Vielleicht war es nicht die richtige Herangehensweise. Vielleicht sollte ich mehr Einfühlungsvermögen beweisen. Aber ich konnte einfach nicht anders, als ihr klarzumachen: "Zweifle niemals daran, du könntest mir keine gute Partnerin sein. Ich will nicht, dass du jemals denkst, irgendetwas, was du tust, könnte dafür sorgen, dass ich dich weniger l- mag. Habe an allem Zweifel, aber niemals daran. Jeden Tag frage ich mich, womit ich es verdient habe, dich als Seelengefährtin zu haben."

Ungläubig richtete Lilith sich auf. "Das ist ein Witz, oder? Du fühlst dich, als hättest du mich nicht verdient? Wie könnte ich je glücklicher sein, als mit dir an meiner Seite? Du bist empathisch, verständnisvoll, stark, beschützerisch und du sorgst dich um das Wohl so vieler. Du könntest in einem Superheldenfilm mitspielen und bräuchtest nicht einmal eine Superkraft. Alle würden dich auch so lieben. Wenn du mir also so harsch verbietest, an mir zu zweifeln, dann verlange ich das Gleiche von dir."
Sie sah mich drohend an, als wollte sie mir weismachen, ihren Willen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.
Doch was sie konnte, das konnte ich schon lange. Ich nahm ihre Herausforderung an.
"Und du bist all das nicht, oder was? Du bist so viel stärker als dich. Und damit meine ich nicht nur deine Kraft. Ich meine deine emotionale Stärke. Ich bezweifle, dass jemand, der bereits so viel durchgemacht hat wie du, noch so sehr am Leben wäre. Glaubst du, ich sehe nicht, wie sehr du unsere Freunde in dein Herz geschlossen hast? Ich bin mir sicher, du würdest dich für sie in Gefahr begeben, um sie zu schützen. Und wenn ich könnte, würde ich dich am liebsten mit allem, was ich habe, davon abhalten."

"Ach, also würdest du nicht das Gleiche machen?", fragte sie spöttisch.
"Doch", erwiderte ich. "Aber das ist etwas anderes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß meine Angst ist, dir könnte etwas zustoßen. Jeden verdammten Tag denke ich darüber nach, ob du wieder von einem Vampir angegriffen wirst. Ob Yadier sich dazu entscheidet, dich am helllichten Tag zu entführen. Ob du nicht doch noch entscheidest, das hier wird dir zu viel und du verlässt diesen Ort. Verlässt mich. Vor allem könnte ich es verstehen. Ich könnte es dir nicht einmal vorhalten."
"Du würdest mich einfach so gehen lassen?" Lilith wirkte stutzig.
"Wenn es das wäre, was du wolltest, dann ja. Auch wenn es mir das Herz brechen würde. Das ist wohl das Dilemma an Seelenverwandten. Sie wollen stets das Beste füreinander und doch immer zusammen sein. Und wenn beides nicht zusammen passt... naja, dann wird es so oder so Probleme und Schmerzen geben. Trotzdem, trotz allem würde ich diese Zeit mit dir nie missen wollen. Wenn du jetzt gehen würdest, würde ich es dennoch nicht bereuen, meine Seelengefährtin, dich, kennengelernt zu haben. Und wenn wir nur fünf Minuten miteinander gehabt hätten. Nichts auf dieser Welt könnte mich je glücklicher machen, als dich kennengelernt zu haben."

Wir saßen einander gegenüber. Sie blickte mich mit großen Augen an. Ich glaubte, ein paar Tränen darin zu erkennen. Ich konnte sie verstehen. Auch ich hatte mit den Tränen zu kämpfen.
"Ich-", ich zögerte, bevor ich erneut ansetzte. "Lilli, ich-" Wieder stockte ich. Es war nicht so, dass ich mich nicht traute, die Worte auszusprechen. Doch ich befürchtete, dass es noch zu früh wäre. Dass sie meine Gefühle nicht verstehen konnte. Und keinesfalls wollte ich Lilith in eine Situation bringen, in der sie dachte, sie müsste meine Gefühle erwidern. Also würde ich warten. Warten, bis sie dazu bereit war.
"Ich liebe dich."
Erstaunt riss ich die Augen auf.
Lilith lächelte mich an. Eine einzelne Träne floss ihre Wange hinab.
"Ich liebe dich, Kian", wiederholte sie. Als hätte sie gewusst, worüber ich nachgedacht hatte.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich realisierte, dass das warme Gefühl in meiner Brust nicht nur von mir stammte, sondern auch von ihr. Es war die Liebe, die sie für mich empfand.
"Ich liebe dich", flüsterte ich ihr sanft zu. "Ich liebe dich mit allem, was dazu gehört. Ich werde dich so lange lieben, bis mein Herz aufhört zu schlagen."
Nun war es auch um mich geschehen. Die Tränen flossen über mein Gesicht. Dennoch war mein Lächeln nie breiter gewesen. Nie hatte ich ein solches Glück und solche Liebe verspürt, wie in diesem Moment, als Lilith ihre Arme um meinen Nacken schlang und wir uns eng aneinander pressten, bis das Einzige, was wir hörten, sahen und fühlten, der jeweils andere war.

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Mit diesem Kapitel ist diese Geschichte übrigens die längste, die ich bisher geschrieben habe. Dabei hatte ich ursprünglich nie erwartet, dass sie einen solchem Umfang annehmen würde. Aber naja, ich schreibe sehr gerne über Lilith und Kian, deswegen kann ich mich nicht beklagen 😁🤭

Noch ein kleiner Funfact am Rande: Dieses Kapitel habe ich gestern, am Valentinstag, geschrieben ☺️

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt