•vierundvierzig•

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Der Wolf starrte mich an. Ich starrte zurück. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er wusste, was ich eben mit angesehen hatte. Welches schockierende Geheimnis mir gerade offenbart worden war.
Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Gefangen in der Frage, ob ich ihn konfrontieren oder ihm einfach aus dem Weg gehen wollte, rührten sich meine Füße nicht von der Stelle.
Cody zog angesichts des Wolfes auf dem Vorplatz des Herrenhauses den Kopf ein. Das war wahrscheinlich die richtige Reaktion, wenn man einem Wolf gegenüberstand. Doch ich brachte es nicht über mich, mich so zu verhalten. Voller Angst vor einem Tier, das ich kannte. Das ich zu kennen geglaubt hatte. Während ich nun in seine gelbbraunen Augen blickte, fragte ich mich, wie gut ich ihn wirklich kannte.
Er nahm seinen Blick nicht von mir. Vielleicht wartete er, wie ich mich verhalten würde. Wie sauer ich ihm wäre. Darauf konnte ich ihm eine Antwort geben.
Ich befreite mich aus meiner Starre und ging die letzten Schritte auf ihn zu, bis ich den Wald hinter mir ließ und nun ebenfalls von den Laternen hell erleuchtet war.
Jetzt waren wir nicht mehr so weit voneinander entfernt. Doch er bewegte sich noch immer nicht. Fassungslos flehte ich ihn gedanklich an, sich mir zu erklären. Mir zu sagen, dass mich meine Augen getäuscht hatten. Dass es nicht wahr war.
Doch er tat nichts dergleichen.

Meine Anwesenheit blieb nicht unentdeckt.
"Lilith." Die entgeisterte Stimme meines Vaters hallte über den Platz. Er kam zusammen mit Rick auf mich zu. "Was machst du denn hier?"
Beide blieben links von mir stehen. Beinahe wünschte ich mir, sie hätten sich zwischen den Wolf und mich gestellt, damit ich ihn nicht länger ansehen konnte. Mich nicht länger damit auseinandersetzen musste, was das alles zu bedeuten hatte.
Ich öffnete den Mund, auf der Suche nach einer Antwort. Doch es wollte kein Ton heraus. Stattdessen konnte ich meinen Blick nicht von dem Wolf nehmen.
Mein Vater kam auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. Wahrscheinlich hoffte er, dadurch zu erreichen, dass ich ihn ansah.
Als das aber nicht geschah, wandte er sich dem Wolf zu. "Was hast du zu ihr gesagt? Warum verhält sie sich so?"
Von ihm erhielt er jedoch ebenfalls keine Reaktion. Er schien sich auch nicht von mir abwenden zu können. In seinem Blick lag so viel Bedauern und Schuld, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte.

"Kian." Die Stimme seines Vaters hatte einen Befehlston angenommen. "Kian, jetzt verwandle dich doch endlich mal." Er konnte sich bestimmt nicht erklären, warum sich sein Sohn nun auch so merkwürdig verhielt.
Beim Klang seines Namens lief mir ein Schauer über den Rücken, der ausreichte, damit ich mich abwandte. Ich drehte den Kopf nach links, zu der Hand, die noch immer auf meiner Schulter verweilte. Runter zu dem hellen Fell an meiner Seite, bis hin zu Codys Kopf, der mir entgegen sah. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie er zu mir gekommen war. Ob er gespürt hatte, dass ich Beistand benötigte?
"Lilith, ich-" Der zögerliche Klang seiner Stimme ließ mich ihn wieder ansehen. Dort stand er. An der Stelle, an der eben noch mein Wolf auf allen vieren gewesen war. Jetzt befand sich dort Kian.
Er wurde von meinem Dad unterbrochen, der erneut zu wissen verlangte: "Was ist los mit euch?" Und direkt an mich gewandt: "Was machst du hier?"
Ich hatte keine Antwort auf seine Fragen. Kian hatte sich gerade erklären wollen. Zumindest glaubte ich das. Er hatte mir beibringen wollen, warum er das getan hatte. Und ich musste diese Erklärung hören. Ich wollte ihn verstehen.

Statt unseren Vätern also zu antworten, gab ich Dad weiter, was ich ihm ausrichten sollte, wenn ich ihm zufällig über den Weg laufen sollte. "Veronica sucht dich."
Er runzelte die Stirn. "Deshalb bist du abends draußen? Um mir das mitzuteilen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Cody wollte nochmal raus. Und ich muss mit..." Ich stockte kurzzeitig, als mir sein Name nicht direkt über die Lippen wollte. "Mit Kian sprechen."
"Das konntet ihr nicht morgen früh machen? In einer Pause in der Schule beispielsweise?" Rick verschränkte die starken Arme vor seiner breiten Brust und sah zweifelnd von Kian zu mir.
Ich fühlte mich, als hätten uns unsere Väter bei etwas Unanständigem erwischt, statt bei dem einfachen Versuch, miteinander zu reden.
"Nein, das kann nicht warten. Wir müssen jetzt darüber sprechen." Die Dringlichkeit in meiner Stimme überraschte die beiden. Aber Kian verstand es. Er begriff, was ich ihm sagen wollte. Dass ich nicht eher gehen würde, bis wir darüber gesprochen hatten. Dass ich wissen musste, warum er es mir nicht gesagt hatte.

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt