•fünfundsiebzig•

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Ich legte den Kopf schief, lächelte Rick aber freundlich an, als ich eine Spur von Zorn in seinen Augen zu erkennen glaubte. Vielleicht sollte ich wirklich aufhören, ältere Männer, die in der Lage waren, mir sehr gefährlich zu werden, so sehr zu reizen. Völlig egal, wie viel Spaß es machte. Die Chance war zu hoch, dass mich das irgendwann nochmal ins Grab bringen würde.
"Ich denke, das ist irrelevant", meinte er nur.
Wie auch damals bei meinem Gespräch mit Kian vor ein paar Tagen erhielt ich eine Information, von der ich bezweifelte, dass Rick sie mir absichtlich gegeben hatte.
"Sie haben mir nicht widersprochen", stellte ich fest. "Sie wissen, dass Sie etwas behalten haben, was Ihnen nicht zustand."
"In der Tat." Sein Tonfall war trocken. Er machte nicht den Anschein, als würde ihm sein Fehler leid tun.

"Warum haben Sie es dann behalten?"
"Um dir diese Frage zu beantworten, kennen wir uns wahrlich noch nicht gut genug. Abgesehen davon denke ich nicht, dass dich das etwas angeht." Diese Aussage gepaart mit seiner plötzlich angespannten Körperhaltung verriet mir, dass es mehr hinter dieser Geschichte gab, als ich bisher vermutet hatte. Möglicherweise eine familiäre Geschichte, die ich nicht kannte.
Und es sagte mir, dass Rick mir noch immer nicht traute. Was die Frage aufwarf, warum er dann so tat, als ob.
"Darf ich ehrlich zu Ihnen sein?", fragte ich vorsichtig in der Hoffnung, ihn wieder etwas beruhigen zu können. Für das Folgende würde es mir nicht helfen, wenn er bereits kurz vor hundertachtzig stand. Ich brauchte etwas mehr Luft nach oben.
Es funktionierte - zumindest ein wenig. Er nickte mir als Bestätigung zu.

"Ich denke, dass Sie mich nicht mögen. Sie ringen sich nur für Ihren Sohn dazu durch. Weil Sie wissen, wie viel ich ihm bedeute. Aber eigentlich bin ich für Sie mehr eine Last. Weiterhin bezweifle ich, dass Sie mir urplötzlich vertrauen. Ich vermute vielmehr, Sie haben einen Nutzen in mir erkannt. Sie haben mich unterschätzt, das ist richtig. Und weil Sie auf einmal erkannt haben, dass ich doch mehr Lösung als Problem bin, versuchen Sie nun, sich für Ihre Zwecke bei mir einzuschleimen. Ich bin mir sicher, der Konflikt zwischen den Vampiren und Werwölfen, von dem nun schon häufiger gesprochen wurde, geht auch an Ihnen nicht vorbei. Und da kommt es Ihnen wohl gelegen, einfach so und ohne viel Zutun eine Hexe auf Ihrer Seite zu haben."
Wir waren mittlerweile stehen geblieben. Rick hatte den Kopf in den Nacken gelegt und genoss die wenigen Sonnenstrahlen, die sein Gesicht erwärmten. Möglicherweise verliehen sie ihm auch die Ruhe, die er brauchte, um mir nicht den Hals zu verdrehen.

"Eines muss ich dir lassen", meinte er, die Augen geschlossen, "du bist wirklich intelligent. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich am Ende herausstellt, dass du es warst, die uns alle zum Narren gehalten hat."
Darauf ging ich nicht ein. Natürlich stimmte es nicht. Aber es konnte nicht schaden, wenn andere das von mir dachten. Selbst wenn jener andere Kians Vater war.
"Also geben Sie zu, dass ich richtig liege?" Ich runzelte die Stirn. Das war zu einfach.
"Ja. Ebenso wie ich dir sagen kann, dass ich mich dafür schäme. Es ist nicht richtig von mir, dich nur als Mittel zum Zweck zu betrachten. Auch wenn ich bisher keine gute Erfahrung mit Hexen habe sammeln können. Aber für meinen Sohn würde ich gerne mehr in dir sehen. Für meinen Sohn will ich es vor allem versuchen. Er bedeutet mir alles und ich will ihn nicht auch noch verlieren. Und ich bin mir sicher, du würdest das Gleiche tun. Denn so viel wie du über mich weißt, weiß ich über dich. Ich weiß, dass du nicht vorhast, diesen Ort zu verlassen. Dies ist dein Zuhause geworden. Der Ort, wo deine Freunde und deine Familie sind. Du willst ebenso sehr wie ich, dass wir beide miteinander auskommen. Damit du hier bleiben kannst."

"Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, ich bin nicht diejenige, die diesem Vorhaben im Weg steht", setzte ich ihn in Kenntnis. Zugegebenermaßen war ich nicht immer dieser Meinung gewesen, aber über die Monate hatte ich Sellwyll doch gern gewonnen.
Rick sah mich an und es verwunderte mich erneut, wie ähnlich er Kian doch sah. Fast schockierte es mich. Denn im Gegensatz zu seinem Vater würde Kian mich nie für das verurteilen, was ich war, sondern mich stets danach beurteilen, wer ich war.
"Wie wäre es, wenn wir festhalten, dass wir uns beide nicht über den Weg trauen", schlug Rick vor, was mich zum Schmunzeln brachte. Das schien mir keine gute Grundlage für eine Zusammenarbeit zu sein. "Aber wenn du das Beste für Sellwyll und seine Bewohner willst, und es mir genauso ergeht, dann bin ich mir sicher, wir finden einen Weg. Unsere Absichten sind doch egal, solange unser Ziel das Gleiche ist."
Und wenn ich nur im Hinterkopf behielt, dass Rick mir mit ziemlicher Sicherheit noch immer etwas verheimlichte, konnte ich damit arbeiten.

"Darauf können wir uns einigen. Für die Personen, die wir gern haben, können wir unsere Probleme beiseite schieben."
Rick wirkte bereits erleichtert, als ich noch etwas hinterherschob: "Allerdings finde ich, Sie sollten mir etwas entgegenkommen. Schließlich waren in gewisser Weise Sie es, mit dem die ganzen Probleme überhaupt erst begonnen haben. Sie waren der Grund, weshalb alles kompliziert geworden ist."
Rick runzelte die Stirn. Ihm schien mein Urteil zu missfallen. "Wie kommst du denn darauf?"
"Abgesehen davon, dass Sie mir von Beginn an nicht getraut haben und mir dadurch schon einige Steine in den Weg gelegt haben, waren Sie der Grund, weshalb ich nicht eher eine Antwort auf die Frage bekommen habe, was ich denn nun bin. Ich habe lange nach meiner Antwort gesucht und als ich etwas gefunden habe, das mir helfen konnte, wurde ich enttäuscht. Sie wissen schon... wegen der Blätter, die Sie aus einem gewissen Tagebuch herausgerissen haben. Einem Tagebuch, das erstaunlicherweise sehr viel über das Wesen der Hexen erklärt. Was doch merkwürdig ist, bedenkt man, dass sie keine Hexe sind."

So viel zu meinem Vorhaben, heute umsichtig und vorsichtig zu handeln. Immerhin blieb ich zuversichtlich. Ich war mir ziemlich sicher, diesen Kampf gegen Rick gerade zu gewinnen. Natürlich ging es nicht darum. Obwohl... doch, irgendwie schon.
Und weil ich etwas Bestimmtes von ihm wollte.
Ich war mir bewusst, dass ich ihn immer weiter auf die Palme brachte und nicht aufhörte, ihn zu reizen. Aber auch nur, weil ich die Gewissheit in mir spürte, dass er weiter auf mich zugehen würde. Genau das wollte ich erreichen.
"Ich gebe zu, das war nicht ehrenvoll von mir. Es war nicht mein Plan gewesen, dir deinen Weg zu dir selbst zu erschweren." Sicher doch. Das stank förmlich nach einer Lüge. Umso interessanter war es aber, dass er diese Lüge dennoch erzählte. "Aber du klingst, als hättest du dir bereits überlegt, wie ich diesen Fehler wieder ausgleichen kann." Rick blickte mich abwartend an.
"In der Tat." Ich begegnete seinem Blick mit der gleichen Stärke und einer ganzen Portion an Trotz. "Es geht um meinen Hund, Cody."

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Ich wünsche euch einen wundervollen Start in das neue Jahr. Falls ihr euch etwas vornehmt, drücke ich euch die Daumen, dass eure Vorsätze in Erfüllung gehen 🥳🎉🎆
Wir hören uns im Jahr 2024 😁❤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt