•zehn•

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"Meine Güte, du siehst heute aber schlimm aus." Das waren die ersten Worte, die Cavyn in der Schule an mich richtete.
Ich betrachtete ihn mit einem verärgerten Blick. "Danke. Das ist wirklich exakt das, was ich am Morgen hören will."
Er hob abwehrend die Hände in die Höhe und stiefelte mir hinterher, als ich mich auf den Weg zu meiner ersten Stunde machte. Mit meinem Stundenplan in der Hand lief ich von Tür zu Tür, um vielleicht zufälligerweise die richtige zu finden.
"Das war gar nicht böse gemeint", verteidigte er sich. "Ich war nur so überrascht. Deinem Aussehen nach zu urteilen, könnte man schon fast denken, du hättest noch weniger geschlafen als ich."
"Hab ich wahrscheinlich auch", flüsterte ich zustimmend.
Aber natürlich hörte Cavyn mich dennoch. "Das denke ich eher nicht."
"Wollen wir uns jetzt wirklich darüber streiten, wer von uns beiden länger geschlafen hat?"
Cavyn schaute mich genau an, bevor er zögernd "Nein?" antwortete.
Ich nickte bestätigend, woraufhin er erleichtert Luft holte.

"Wohin gehen wir eigentlich?", wollte er nach einer Weile wissen, denn ich hatte meinen Raum noch immer nicht gefunden.
"Ich weiß zwar nicht, wohin du willst, aber ich suche den Physikraum." Mitten auf dem Gang blieb ich stehen und drehte mich einmal im Kreis. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich in dieser Akademie zurechtzufinden. Ich war mir sicher, jetzt an mindestens schon drei Viertel aller Räume im gesamten Gebäude vorbeigelaufen zu sein. Aber meiner war selbstverständlich nicht dabei gewesen. Genervt stieß ich die ganze angestaute Luft in mir aus. Wenn das so weiterging, bräuchte ich noch zehn Minuten, um meinen Raum zu finden. Dann käme ich zu spät. Und das wollte ich sicherlich nicht. Das war viel zu peinlich. Also fand ich den Physikraum in den nächsten neun Minuten oder aber ich schwänzte meine erste Physikstunde auf meiner neuen Schule.
"Du scheinst mir ein wenig gereizt zu sein. Darf ich dir einen Hinweis geben?"
"Wird der mir helfen, meinen Raum zu finden?"
"Ja."
"Dann immer raus damit."
Cavyn drehte mich an meinen Schultern um 180 Grad, sodass ich auf die große Mitteltreppe sah. "Du bist auf der falschen Seite der Schule, wenn du den Physikraum finden willst."

Gequält legte ich den Kopf in den Nacken, bevor ich meinen Rucksack erneut schulterte und mich auf den Weg machte. Cavyn jedoch blieb hinter mir stehen, sodass ich ihn verwundert fragte: "Willst du nicht mitkommen?"
Er schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe jetzt Mathe. Und zwar genau da." Er deutete auf die Tür links von ihm.
"Hättest du mir nicht vorher sagen können, dass ich in der komplett falschen Richtung war?"
"Du sahst, ehrlich gesagt, nicht so aus, als könntest du einen netten Tipp jetzt gut vertragen. Ich hatte Angst um meine Gesundheit."
Ich runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. "So gruselig bin ich nun auch wieder nicht."
"Aber ganz schön furchteinflößend, wenn du willst", gab er zu.
Ich überlegte noch, ob es das irgendwie besser machte, während Cavyn mir lächelnd noch einmal zuwinkte und danach in seinen Raum verschwand.

Ich folgte der großen Mitteltreppe, bis sie mich auf einen neuen Gang entließ, der so wirkte, als sei er der Richtige. Hoffentlich war er das auch, denn es reichte mir schon, dass ich mir fünfzig Namen merken musste. Da brauchte ich nicht auch noch eine verwirrende Schule, die ständig dafür sorgte, dass ich schlecht gelaunt war, noch bevor der Unterricht überhaupt angefangen hatte.
Ich ging an mehreren Räumen vorbei und prüfte währenddessen stets, ob einer davon meiner war. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch fünf Minuten und nicht mehr allzu viele Optionen hatte. Ich dürfte es also noch pünktlich schaffen.
Schritte auf dem Fußboden ließen mich über meine Schulter sehen. Soweit ich das mitbekommen hatte, waren die meisten Schülerinnen und Schüler bereits in ihren Räumen. Deshalb vermutete ich, dass ich eine Lehrkraft hinter mir erblicken würde. Leider war das nicht der Fall.
Es war Kian. Sofort wandte ich mich wieder ab. Doch es war bereits zu spät, er hatte mich schon gesehen.
"Lilith." Klasse, meinen Namen kannte er also auch.
Ich machte mir keine Mühen, stehen zu bleiben. Erst als er plötzlich neben mir war und erneut meinen Namen sagte, wandte ich mich ihm zu. "Hallo, ich habe dich gar nicht gehört."
Sein skeptischer Blick verriet mir, dass er mir nicht im Geringsten glaubte.

Mit einem Mal wurde sein Gesichtsausdruck weicher und seine braunen Augen glitten über mein Gesicht. "Wir wurden uns noch nicht offiziell vorgestellt. Da wir aber in der Zukunft häufiger miteinander... zu tun haben werden, ist das wahrscheinlich eine gute Idee. Mein Name ist Kian."
"Hallo, Kian, ich bin Lilith, obwohl ich das merkwürdige Gefühl habe, dass du meinen Namen schon kennst."
Kian schmunzelte. "Ja, deine Ankunft hier ist nicht an mir vorbei gegangen."
"Das habe ich mitbekommen." Er blickte mich fragend an, sodass ich näher erklärte: "Beah versicherte mir am Montag, du würdest dich darum kümmern, dass ich hier Anklang finde."
Verstehend nickte er. "Wenn du das möchtest, kann ich das machen."
"Möchte ich nicht", stellte ich klar. "Ich komme schon klar. Und wenn ich doch jemanden brauche, der mich an die Hand nimmt, dann melde ich mich bei dir."
"Sehr gut. Also weniger Ärger für mich." Zufrieden richtete er seinen Blick nach vorne.
Jetzt lag es an mir, ihn abschätzend zu betrachten. Den Kommentar hatte ich wohl verdient, immerhin war ich auch nicht gerade sehr nett zu ihm.

"Gibt es einen Grund dafür, dass du mich beschattest oder verweilst du nur gerne in meiner Gesellschaft?"
"Ich bin einfach nur gerne in der Gegenwart jener, die mich nicht ausstehen können. Das gibt mir den gewissen Kick."
Das brachte mich zum Schmunzeln. Eine Geste, die Kian sofort einzufangen schien und auf die er auch stolz zu sein schien.
"Nur um das klarzustellen: Ich verabscheue dich nicht. Ich kenne dich einfach nur nicht. Und ich muss mit ziemlich vielen verrückten Dingen zurechtkommen, seit ich hier bin."
Plötzlich wurde Kian ernst, als er wissen wollte: "Inwiefern verrückt?"
"Ach, nur diesen und jenes. Nichts allzu Besonderes." Ich wollte niemandem von meiner Begegnung mit dem Wolf erzählen. Ganz sicher wollte ich nicht, dass man mich direkt für verrückt erklärte. Denn das würde sicherlich passieren, wenn ich jemandem davon berichtete. Außerdem, so glaubte ich, gefiele es mir, wenn dieses Treffen ein Geheimnis blieb. Diese kleine Magie, die ich in der letzten Nacht verspürt hatte, sollte nur dem Wolf und mir gehören. Ich hatte nicht vor, sie zu teilen.

Glücklicherweise gab sich Kian mit meiner Antwort zufrieden. Obwohl sein Blick mehr sagte: "Ich lasse dich mit dem Thema erstmal in Ruhe." Mir sollte es recht sein.
"Um auf deine Frage zurückzukommen, ich habe dort Physik." Er deutete auf den Raum, vor dem wir stehen geblieben waren. Natürlich war es der letzte Raum in diesem Gang.
"Wie schön. Das ist bereits das zweite Fach, das wir zusammen haben", teilte ich ihm mit.
"Ja, auf unsere erste gemeinsame Musikstunde freue ich mich schon sehr."
Ich konnte nicht ganz beurteilen, wie viel Sarkasmus in dieser Aussage steckte. "Cavyn hat dir bereits davon erzählt?"
"Richtig", bestätigte er. "Er hat mich ganz aufgeregt davon in Kenntnis gesetzt, dass ich wohl eine neue Sitznachbarin bekommen würde."
"Eine sehr intelligente noch dazu", führte ich weiter aus.
"Echt? Davon hat er gar nichts erzählt." Kian grinste breit, als ich die Augen rollend den Kopf schüttelte, mir ein leichtes Schmunzeln aber erneut nicht unterdrücken konnte.

Es war ein schönes Gefühl, endlich mal wieder jemanden zu haben, mit dem man ein paar Gemeinheiten austauschen konnte, ohne dass die andere Person direkt beleidigt reagierte.
Ich wollte gerade die Tür öffnen, als Kian sich vor mich schob. Er war wieder ernst geworden. "Geht es dir gut?", wollte er wissen.
Ich runzelte die Stirn, verwirrt über seinen plötzlichen Umschwung. "Willst du mich ebenso auf meinen Schlafmangel ansprechen?"
"Nein." Kian schaute mich mit einem unerschütterlichen Blick an und fragte erneut: "Ich möchte einfach nur wissen, ob es dir gut geht."
Irritiert über diese Intimität zwischen uns hatte ich das Gefühl, dass ich auf diese Frage nicht mit einer Lüge antworten sollte. Es fühlte sich falsch an. Kian schien ehrlich interessiert an meinem Wohlergehen. Zwar verstand ich nicht warum, aber ein bisschen weniger Skepsis vor anderen Menschen würde mir vielleicht ganz gut tun.
Ich nahm mir Zeit, zu antworten. Ob wir zu spät kämen, war mir auf einmal egal, und auch Kian schien sich darum nicht im Geringsten zu kümmern. Seine Aufmerksamkeit lag noch immer auf mir.
"Es ist in Ordnung", antwortete ich ehrlich und fügte noch hinzu: "Es wird schon gehen."

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Wir sind schon beim zehnten Kapitel🥳 Wie schnell die Zeit verfliegt...😯

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt