•zweiundneunzig•

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"Du hast es dir so ausgesucht."
Ich erlag meinen Schmerzen und ließ mich auf den Boden sinken. Es tat so weh.
"Jetzt wirst du so untergehen, wie sie es damals tat."
Ich wusste nicht, was ich tun konnte. Ich war machtlos. Ich konnte nichts daran ändern.
"Bist du wahnsinnig? Wir brauchen sie noch."
Eine andere Stimme. Die Person klang ebenfalls angeschlagen. Sie war etwas weiter entfernt.
"Wenn ich sie nicht kriege, dann bekommt sie keiner."
Schwarze Stiefel traten in mein Blickfeld. Ein Gesicht näherte sich meinem. Eine Hand tastete nach meinem Haar, wickelte sich eine Strähne um den Finger.
"Was für eine Schande." Der Druck der Finger verstärkte sich, bis sich ein Ziehen an meiner Kopfhaut bildete.
"Du bist nicht so dumm, sie umzubringen."
Das Gesicht wandte sich von mir ab zu der anderen Person.
"Das Mädchen bereitet mir mehr Probleme, als es Lösungen erbringen kann."
Jetzt sahen die Augen wieder zu mir. Ein Lächeln schob sich in die Mundwinkel.
"Ich glaube, ich werde es genießen, dich leiden zu sehen."
Ich wollte das Grinsen aus dem Gesicht der Person schlagen. Doch ich konnte nicht einmal meinen Finger bewegen.
"Nicht..."
Meine Augen suchten automatisch nach Kian. Er hatte seine Hand nach mir ausgestreckt. Hätte er die Kraft dazu gehabt, wäre er zu mir gekommen. Erneut öffnete er den Mund. Aber es kamen keine Laute heraus.
"Ach, die Liebe... sie ist so süß, dass sie einem beinahe das Herz zerreißt." Die Stimme war voller Spott.
Die schwarzen Stiefel entfernten sich von mir. Sie traten zu Kian.
"Wie es wohl wäre, sie dir zu entreißen? Sie dir vor deinen Augen zu nehmen?"

¤¤¤

Ich fühlte mich frei. Ich fühlte mich ganz. Ich fühlte mich pudelwohl.
Von der Art und Weise, wie Cody neben mir hin und her sprang, vermutete ich, dass es ihm genauso ging.
Zugegebenermaßen gefiel mir der Anblick des Waldes im Frühling und Sommer etwas besser, wenn alles grünte. Aber heute war mir das vollkommen egal.
Es war November, was bedeutete, dass die meisten Bäume kahl und die Luft sehr kühl war. Doch auch das hatte mich nicht davon abgehalten, mich in warme Kleidung einzuhüllen und nach draußen zu gehen.
Es war das, was Cody und ich brauchten. Diese Routine, regelmäßig im Wald spazieren zu gehen, hatte mir in der letzten Zeit gefehlt. Ich musste eine ganze Menge an Spaziergängen wieder aufholen.
Leider hatte die Kälte auch zur Folge, dass der Wald beinahe totenstill war. Ich hörte nur wenig Vogelgezwitscher und auch andere Tiere ließen sich nur selten blicken.
Aber das war okay. Gerade störte mich die Stille nicht. Zumal sie häufig von Codys aufgeregtem Bellen oder dem Knacken von Ästen unterbrochen wurde.

Ich bewegte mich nur langsam vorwärts. Mit meiner ausgestreckten Hand schwebten meine Finger wenige Millimeter über einem Ast, einem Strauch, einer Baumrinde. In meinen Fingern baute sich ein elektrisierendes Prickeln auf, das sich mit jedem weiteren Strauch aufbaute. Doch ich gab dem Gefühl nicht nach.
Mein Blick war starr auf meine Hand gerichtet, als wartete ich darauf, dass sich kleine Blitze an meinen Fingerspitzen bilden würden. Ich achtete nicht auf den Weg. Das brauchte ich auch gar nicht, denn ich stolperte nicht einmal. Ich rannte auch gegen keinen Baum.
Es war, als wusste meine Umwelt, dass ich all meinen Fokus auf das Zusammenspiel meiner Hand und der Natur richtete.
Ich dachte an nichts, bis auf das Gefühl in meinem Körper. All die Gedanken und Ereignisse der letzten Tage verblassten in meinem Kopf.
An einer besonders großen Eiche verweilte ich länger. Ich hielt beide Handinnenflächen dicht vor die Rinde des Baumes. Wie erwartet, verstärkte sich das Prickeln. Ich fragte mich, ob es die Energie des Baumes war, die ich spürte. Das Leben in ihm.
Vielleicht fühlte ich auch die Energie, die ich abschöpfen konnte, wenn ich es denn wollte. Die Energie, die meine Magie befeuern konnte.

Ich stand einige Minuten an Ort und Stelle, bis zu dem Prickeln ein neues Gefühl hinzu kam. Ich spürte eine weitere Präsenz. Sie war ganz klein, beinahe zu klein, um sie überhaupt zu bemerken. Doch ich wusste, dass sie da war. Zwischen meinen Füßen und der Eiche.
Langsam senkte ich den Blick, um meine Ahnung zu überprüfen.
Eine Maus trampelte in kleinen Kreisen über den Boden. Sie hob den Kopf und ich könnte schwören, dass sie mir in die Augen sah. Sie rannte nicht vor mir weg, obwohl ich über sie ragte und ihr Leben mit nur einer Bewegung beenden könnte. Ob sie wohl spürte, dass von mir keine Gefahr ausging? Dummerweise reichten meine Fähigkeiten nicht so weit, um mit ihr zu sprechen. Das wäre mir aber sowieso nicht gelungen, denn kaum kam Cody wieder zu mir, war sie schneller weg, als ich blinzeln konnte.
Cody sprang aufgeregt um den Baum herum, als müsste er seinen Körper nach all der Zeit, in der er sich nur beschränkt oder gar nicht bewegt hatte, wieder auspowern.

Während ich weiter ging, dachte ich darüber nach, warum mich meine Begegnung mit der Maus gerade so fasziniert hatte. Schon vorher hatte ich mitbekommen, dass die Tiere mir gegenüber deutlich vertrauter und offener waren als anderen. Doch mir war neu, dass ich sie spüren konnte. Dass ich ihre Präsenz wahrnehmen konnte. Ähnlich wie mit den Bäumen und Sträuchern. Ich spürte das Leben in ihnen.
Das war etwas, das ich vor wenigen Wochen noch nicht gekonnt hatte. Entwickelte sich meine Kraft? Oder hatte ich früher einfach nie bemerkt, dass ich meine Umwelt auf diese Weise wahrnehmen konnte?
Irgendwo in meinem Unterbewusstsein wusste ich, dass mich die Möglichkeit, meine Kraft könnte sich entwickeln, wohl beängstigen und zweifeln lassen sollte. Aber nicht jetzt. Ich würde mir meine Spaziergänge davon nicht zerstören lassen. Hier konnte ich ich selbst sein und meine Verbindung zu der Natur ganz zwanglos festigen.

Es war schon immer die Erde gewesen, die mich so fesseln konnte. Weil es das Element war, an das meine Mum mich herangeführt hatte. Möglicherweise hatte es mich deshalb noch nie überfordert. Weder in seiner Nutzung, noch dass es mich überrollt hatte.
Ganz anders war das mit der Luft. Sie hatte mich als nächstes heimgesucht und hatte dafür gesorgt, dass ich einiges ungewollt zerstört hatte. Allerdings hatte sie mir schon in mehreren Situationen den Hintern gerettet.
Dann gab es noch das Feuer, zu dem ich eine besondere Leidenschaft verspürte. Ich genoss die Wärme in mir. Das Gefühl des Feuers auf meiner Haut. Doch auch hier hatte ich die Kontrolle schon verloren.
Wenn ich so darüber nachdachte, war das Wasser das Element, mit dem ich bisher am wenigsten in Berührung gekommen war. Lediglich beim Training mit Kian ein, zwei Mal. Was witzig war, wenn ich daran dachte, dass Eduard Schöff sich am Wasser ausprobiert hatte.
Aber so wie jede Hexe ihre Stärken und Schwächen in der Anwendung ihrer Magie hatte, gab es wohl auch Elemente, mit denen sie besser oder eben schlechter klarkam. Vielleicht benötigte ich also nur Zeit, um mit allem anderen warm zu werden. Ich musste einfach mit Geduld und Zeit an meine Magie herangehen.
Allein dass ich über dieses Wissen verfügte, in der Lage war, mir solche Gedanken zu machen, erfüllte mich mit Freude. Ich war nicht hilflos. Ich lernte dazu. Ich sah meine Kraft als eine Stärke. Das musste ich mir immer wieder einreden.
Und wenn ich irgendwann fest daran glaubte, dann wäre ich glücklich. Dann würde ich gerne wieder singen.

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Ich habe einfach total vergessen, dieses Kapitel im Laufe des Sonntags hochzuladen 🤐 Deswegen hole ich das jetzt schnell nach und wir übersehen einfach, dass es schon vier Minuten nach 0 Uhr ist😅

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt