•achtzehn•

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Beim Eintreten in den Musikraum war das Erste, was mir ins Auge fiel, das, worauf mich Cavyn bereits letzte Woche vorbereitet hatte. Links neben ihm saß Kian. Zwar war sein rechter Platz noch frei, aber ich hatte Otta eben noch zur Cafeteria laufen sehen. Die käme also gleich wieder.
Ich spielte mit dem Gedanken, mich neben jemand anderen zu setzen. Dann müsste ich aber neben einer mir noch fremden Person sitzen, die sich vielleicht sogar mit mir unterhalten würden wollen und das konnte ich heute gar nicht gebrauchen. Ich hatte natürlich auch noch die Option, mich neben den Psycho zu setzen. Der beobachtete mich aber schon wieder. Glücklicherweise dieses Mal ohne sein Grinsen. Das machte ihn aber nicht so viel sympathischer, dass er als mein neuer Sitznachbar in Frage kam.
Mit einem leisen Seufzen ließ ich mich auf den Stuhl neben Kian sinken. Er war es ja schon gewohnt, dass ich ihn ignorierte. Mit etwas Glück meinerseits würde er überhaupt nicht versuchen, mich anzusprechen.
"Hey, Lilith, du coole Socke." Cavyn beugte sich vorne über seinen Tisch, sodass er an Kian vorbei mit mir reden konnte. "Ich seh die Motivation in deinem Gesicht. Klasse! Du hast also vor, dich immer zu melden, damit kein anderer dran genommen wird? Das find ich super. So sieht Teamgeist aus!"
Bevor ich die Chance hatte, darauf zu reagieren, betrat Mr. Schöff, der Musiklehrer, den Raum. "Es wundert mich nicht, dass ein solcher Vorschlag ausgerechnet von dir kommt, Cavyn. Vielleicht würdest du uns die Ehre erweisen, eine Interpretation von Beethovens neunter Sinfonie vor der Klasse durchzuführen, anstatt die Arbeit auf Lilith abzuwälzen."

Cavyn wurde rot um die Ohren, nachdem er sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und sich kleiner gemacht hatte. Das war ihm wohl unangenehm. Die Situation amüsierte mich so sehr, dass ich sogar einen kleinen Schmunzler zustande brachte. Als ich den Blick erneut nach vorne zur Tafel richtete, bemerkte ich, dass mich Mr. Schöff beobachtete. Er realisierte schnell, dass ich ihn ertappt hatte, sodass er es mit einem kurzen Lächeln abtat und sich danach abwandte und in seiner Tasche kramte.
"Mich würde interessieren, wie sehr es dich stört, dass du gerade neben mir sitzt und dadurch keine Möglichkeit mehr hast, mir in der Schule weiter aus dem Weg zu gehen." Ich hörte Kians Lächeln mehr, als dass ich es sah.
Denn ich tat mein Bestes, ihn nicht anzusehen.
"Eventuell magst du mir ja auch sagen, warum du mich ignorierst. Vielleicht können wir zusammen daran arbeiten. Ach nein, richtig. So etwas machst du ja nicht. Du bist eine Einzelgängerin. Verzeih mir, dass ich das vergessen habe."
Ich sortierte die Buntstifte in meiner Federtasche zuerst nach Farbe und danach nach Größe, nur um mich von ihm abzulenken.

"Das Einzelgängersein ist ein sensibles Thema bei dir. Deswegen werde ich dich damit auch nicht weiter belasten. Das letzte Mal, als wir darüber gesprochen haben, wurde schließlich ein Baum in zwei Teile halbiert. Wir wollen selbstverständlich nicht, dass das erneut geschieht."
Ich drehte mich ruckartig zu ihm und warf ihm einen Blick zu, der nur zu deutlich sagte "Sprich nicht weiter". Erst als ich das hinterlistige Grinsen auf seinen Lippen bemerkte, wurde mir bewusst, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Er hatte mich absichtlich gereizt, um eine Reaktion aus mir herauszukitzeln.
Ich kniff die Augen zusammen. "Schön. Du hast recht. Ich ignoriere dich. Ehrlich gesagt, verstehe ich gar nicht, warum du damit ein so großes Problem hast? Es ist ja nicht so, als ob du auf mich angewiesen wärst. Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich nichts mit dir zu tun haben will?" Ich bemühte mich darum, möglichst leise zu sprechen.
Es war mir schon unangenehm genug, überhaupt mit Kian darüber zu reden. Schon wieder über etwas Intimes. Schon wieder über Emotionen. Schon wieder über Dinge, die ich mir nicht erklären konnte.
Kian lehnte sich etwas näher zu mir und flüsterte: "Weil ich das Gefühl habe, dass du mich ausgrenzt, weil du keine Lust hast, dich mit dem auseinanderzusetzen, was dich stört. Stattdessen gehst du dem einfach aus dem Weg. Du willst nicht damit konfrontiert werden und fliehst."

Nicht fliehen, Lilli. Wir sind stark, wir stellen uns unseren Problemen.
"Und schon wieder sprichst du, als wüsstest du alles über mich. Obwohl du mich gar nicht kennst." Ich wandte mich von ihm ab. Dieses Gespräch hatten wir schon einmal und ich sah nicht ein, warum wir die gleiche sinnlose Diskussion erneut führen sollten. Kian warf mir vor, nicht ehrlich zu mir selbst zu sein. Dabei war er zu mir auch nicht ehrlich. Sonst hätte er mir schon längst gesagt, weshalb er so besessen von meinem Wohlergehen war. Er konnte mich einfach nicht in Ruhe lassen, egal wie häufig ich ihn dazu aufforderte.
Ich musste mit ihm nicht über meine Gefühle reden. Wollte ich mit jemanden sprechen, tat ich das entweder mit Cody oder mit dem Wolf, der mir treu Gesellschaft leistete.
Plötzlich legte sich eine warme Hand auf meinen Arm. Ich riss überrascht die Augen auf und stellte fest, dass es sich um Kians Hand handelte.
Er sprach nun sanft zu mir. So als wollte er mich nicht verschrecken. "Dann lass mich dich kennenlernen. Erzähl mir was über dich."
Ich runzelte die Stirn. Verzweifelt hoffte ich auf den Unterrichtsbeginn oder irgendetwas anderes, das mich aus dieser Situation befreite.
Warum forderte Kian sowas von mir? Warum konnte er nicht loslassen? Warum freute es mich, dass sich jemand für mich interessierte? Warum prickelte meine Haut, wo Kian mich berührte?

Die Fragen stiegen mir zu Kopf. Zusammen mit Kians warmen, braunen Augen und seiner zärtlichen Berührung schwollen die Gefühle in mir an. Ich wusste nicht, wohin mit mir, als mir immer wärmer wurde. Entsetzt stellte ich fest, dass mir meine derzeitige Gemütslage bekannt vorkam. Sie war ähnlich zu denen in der Stadt und auf dem Schulhof, die ich ebenfalls durch Kian gefühlt hatte.
Ich ignorierte all die neuen Fragen meiner Gedanken, blendete sie einfach aus, während ich mich nur auf Kian fokussierte und ihm atemlos zuwisperte: "Mir ist so warm..."
Kian zog die Augenbrauen fragend zusammen. Sein Blick wanderte schnell über mich, als wollte er herausfinden, was mich so fühlen ließ. Er endete bei seiner Hand, die er rasch von mir entfernte.
Ich atmete nun etwas ruhiger. Zusätzlich beugte sich Kian nah an mein Ohr heran und flüsterte: "Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen." Danach drehte er sich von mir weg.
Doch es war nicht abweisend gemeint, realisierte ich. So gab er mir den Freiraum, den ich brauchte, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Nebenbei bemerkte ich, wie Mr. Schöff begann, etwas an die Tafel zu schreiben. Auch Otta nahm gerade Platz.
Bevor der Unterricht begann, sagte ich, ohne zu Kian zu blicken: "Danke." Nach einem kurzen Zögern fügte ich hinzu: "Vielleicht können wir heute Nachmittag mal reden."
Er richtete seinen Blick weiterhin stur nach vorne. Trotzdem sah ich das feine Lächeln, das seine Lippen umspielte und das kurze Nicken seines Kopfes.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt