•vierundfünfzig•

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Mein Aufprall wurde von den Büschen in unserem Garten abgefedert. Was mir aber an Knochenbrüchen erspart blieb, bekam ich als Schnitte wieder zurück. Die kleinen Äste und Blätter, für die ich dennoch dankbar war, forderten für ihre Hilfe mein Blut. Sie bohrten sich in meine Wangen, meine Arme und meinen Bauch, der durch das Hochrutschen meines Oberteils entblößt worden war.
Mir blieb keine Zeit, mich selbst zu bemitleiden. Auch wenn ich das wirklich gern getan hatte, da die Scheiße brannte, als hätte sie Feuer gefangen. Ich kämpfte mir meinen Weg aus den Büschen heraus, wodurch meine Hände noch stärker geschunden wurden. Einmal verlor ich den Halt und fiel vornüber in das Geäst.
Nachdem ich wieder auf meinen Beinen stand, wagte ich einen kurzen Blick nach hinten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich den Vampir so stark getroffen hatte, dass er mir nicht hatte folgen können.
Ich hatte recht. Oben auf meiner Veranda lehnte er sich an das Gerüst und hatte mir offensichtlich belustigt zugesehen. Das sprach wohl noch einmal mehr für seinen Hochmut. Er zweifelte keineswegs daran, dass er mich kriegen würde. Dessen war er sich so sicher, dass er mir sogar die Zeit ließ, mich wieder zu erholen.
"Waghalsiger Sprung, den Sie dort gewagt haben", kommentierte er spöttisch.
"Im Angesicht des Todes tut man verrückte Dinge", gab ich trocken zurück.
Der Vampir lächelte anerkennend. "An einem gesunden Verstand und Einschätzungsvermögen mangelt es Ihnen ja nicht."

Mit der kommenden Klarheit in meinem Kopf wurden mir meine Verletzungen leider immer schmerzhafter bewusst.
Ich fragte mich, was er für ein Spiel spielte. Ging es ihm wirklich nur darum, mich aus der Fassung zu bringen und dann zu schnappen? Oder übersah ich etwas? War es doch sein Plan, meine Familie gegen mich einzusetzen? Das konnte ich nicht zulassen.
"Worauf warten Sie denn? Macht Ihnen Ihr Alter schon so sehr zu schaffen, dass Sie Ihre Kräfte sammeln müssen, bevor Sie es mit mir aufnehmen können?"
Wir wussten natürlich beide, dass ich Schwachsinn redete. Aber angesichts seiner Aufgeblasenheit und seines Stolzes hoffte ich, ihn dennoch so weit zu reizen, dass er endlich von dieser verdammten Veranda herunterkam.
Ich erzielte zumindest einen kleinen Erfolg. Das süffisante Grinsen des Vampirs verschwand aus seinem Gesicht. Er schien mir meine Frage übelzunehmen. Aber nicht genug, um ebenfalls hinunter zu springen, obwohl seine Landung wahrscheinlich eleganter wäre als meine.

Unsere Situation, in der ich zu ihm hinauf sah und er von meinem Zimmer aus zu mir herunter, erinnerte mich auf eine absurde Weise an Romeo und Julia. Mit dem Unterschied, dass die auf dem Balkon stehende Julia ein blutrünstiger Vampir war, der den sehnsüchtigen Romeo für seine Zwecke nutzen wollte.
Kein Wunder, dass Romeo sich das Leben genommen hatte, als er seine Julia verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er so viel Angst gehabt, sie könnte doch wieder erwachen, dass er sich voller Furcht umgebracht hatte. Ich hatte jedenfalls nicht vor, diesbezüglich in Romeos Fußstapfen zu treten.
"Sie besitzen die Dummheit eines Menschen und die Furchtlosigkeit einer Hexe." Der Vampir lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
Ob er mir noch immer Zeit zur Erholung gab oder unterhielt er sich einfach nur gerne mit seinen Opfern?

Während er sprach, suchte ich in mir verzweifelt nach dem Band zu meiner Magie. Es könnte mir doch wenigstens jetzt ein bisschen helfen. Wer weiß, vielleicht konnte ich ihm einen so starken Windstoß gegen die Hauswand verpassen, dass er ohnmächtig wurde. Konnten Vampire überhaupt ohnmächtig werden? Woher sollte ich sowas wissen? Es war schließlich noch nicht lange her, da war meine einzige Sorge gewesen, das Abitur unbeschadet zu überstehen. Nicht meinen achtzehnten Geburtstag überhaupt noch zu erleben.
Es war hoffnungslos. Ich fand meine Magie nicht. Vielleicht versteckte sie sich absichtlich vor mir, um mir damit meine Dummheit vorzuführen, mich in Sicherheit zu glauben.
Also musste ich auf Plan B umspringen. Und für den war es umso wichtiger, dass er endlich zu mir auf den Boden kam. Hier in der Stadt hatte ich keine Chance, eine Verfolgungsjagd zu überleben. Auf dem Asphalt wäre es ihm ein Leichtes, mich einzuholen. Nein, ich musste dieses Abenteuer dahin versetzen, wo ich zumindest eine geringe Chance hatte. Der Wald. Er war wie mein zweites Zuhause. Ich hatte nicht nur Stunden darin verbracht, sondern fühlte mich dort beinahe heimischer als in dem Haus hinter mir.

"Na dann kann ich wohl von Glück reden, keine Spur Vampirismus in mir zu haben. Arroganz macht sich in dieser Kombi sicher nicht gut", mutmaßte ich.
"Eure vorlaute Art wird Euch bei mir nicht gut bekommen. Gewöhnen Sie sich das lieber ab."
Ich wagte ein spöttisches Grinsen. "Schade, ich dachte immer, man solle sich seinem Anführer anpassen. Obwohl ich mein Gesicht wirklich nicht Ihrer Visage anpassen wollen würde. Hässlichkeit macht sich in meinem ästhetischen Gesicht nicht besonders gut."
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich sah ihm an, dass er genug vom Warten hatte, bevor er sich entschied danach zu handeln.
Ich brauchte auch nicht sein gefährlich ruhiges "Lauf", das er mir riet, um meinen Blick von seinen roten Augen abzuwenden und zu rennen, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her.

Ohne mich noch einmal umzudrehen, hastete ich los in Richtung des Waldes. Ich wusste nicht, was ich mir davon erhoffte. Vielleicht würde der Vampir irgendwann müde und ließe von mir ab. Hielt ich für unwahrscheinlich. Vielleicht würde es mir gelingen, ihn abzuschütteln und mich vor ihm zu verstecken. Ebenfalls unwahrscheinlich, denn spätestens am Geruch meines Blutes würde er mich bestimmt wiederfinden. Das Einzige, was mir also blieb, war die Hoffnung, dass mich jemand rechtzeitig fand und mir half. Einen anderen Weg, wie ich lebend aus der Sache rauskam und dabei nicht zum Maskottchen eines irren Vampir-Clans wurde, fiel mir nicht ein.
Eventuell würde die frische Luft des Waldes ja Wunder bewirken.
Denn den hatte ich glücklicherweise schon erreicht. Meine Dankbarkeit, dass das Haus meines Dads in so kurzer Entfernung zum nächsten Wald war, stieg gen Himmel.

Erneut konnte ich mir nicht die Zeit nehmen, meine Umgebung, die ich doch so schätzte, zu genießen. Ohne Rücksicht auf Verluste war mir der Weg total egal. Ich hatte kein örtliches Ziel vor Augen. Ich rannte dahin, wo mein Gefühl mich hinführte. Optimalerweise war das ganz weit weg von dem grausamen Monster, das mich vor sich her trieb, als wäre ich seine Beute. Was wohl auch der Fall war.
Immerhin war dadurch die Frage beantwortet, woher Jeremy seinen perversen Hang zur Jagd hatte. Wahrscheinlich war ihm das von seinem Boss persönlich eingetrichtert worden.
Umso länger ich floh und mir Gedanken darüber machte, wie ich meine Lage verbessern konnte, desto verzweifelter wurde ich. Nicht nur kam meine Kraft an ihre Grenzen, mir wurde auch bewusst, dass ich keinen Ausweg hatte. Ich würde so lange laufen, bis meine Beine unter mir nachgaben und ich nicht einmal mehr vor dem Vampir davon kriechen konnte. Dann hätte er exakt das, was er von Anfang an gewollt hatte, nur hatte ich noch ein wenig erfolglosen Widerstand geleistet.
Ich wusste auch, dass ich nur noch immer rannte, weil er es mir erlaubte. Weil er mir etwas beweisen und mir meine Schwäche vor Augen führen wollte.
In meiner ausweglosen Lage konnte ich nicht anders, als an die eine Person zu denken, die ich jetzt gerne bei mir wissen würde. Weil es dieser Person schon immer gelungen war, mich wieder auf die Beine zu bringen und weiter zu kämpfen.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt