•einhundertzwei•

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"Ich glaube, ich werde es genießen, dich leiden zu sehen."
Ich wollte das Grinsen aus dem Gesicht der Person schlagen. Doch ich konnte nicht einmal meinen Finger bewegen.
"Nicht..."
Meine Augen suchten automatisch nach Kian. Er hatte seine Hand nach mir ausgestreckt. Hätte er die Kraft dazu gehabt, wäre er zu mir gekommen. Erneut öffnete er den Mund. Aber es kamen keine Laute heraus.
"Ach, die Liebe... sie ist so süß, dass sie einem beinahe das Herz zerreißt." Die Stimme war voller Spott.
Die schwarzen Stiefel entfernten sich von mir. Sie traten zu Kian.
"Wie es wohl wäre, sie dir zu entreißen? Sie dir vor deinen Augen zu nehmen?"
Die Stimme lachte verächtlich. Der schwarze Stiefel trat Kian in die Seite, genoss sein schmerzfülltes Stöhnen, das darauf folgte.
"Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bestrafe dich für deinen Ungehorsam und beschere ihr den größten Schmerz, den wir jemals verspüren können."
Die Stimme wandte sich zu der anderen Person im Raum.
Meine Finger gruben sich in den harten Boden. Versuchten, Halt zu finden, um mich zu Kian zu ziehen. Ich wollte ihn berühren. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ihm all diese Lügen erzählen, damit er nur meine Liebe spürte, die ihn seine Schmerzen vergessen ließ.
"Nun schau doch nicht so angewidert." Die Stimme klang beinahe empört.
"Diese Art von Schmerz..." Die Person stockte. "Die verdient niemand."
"Verweichlicht. Ihr alle. Ihr seid schwach. Ihr habt nicht, was es braucht, um zu führen." Ich glaubte, die Stimme etwas leiser "Ich verdiene es, sie anzuführen. Ich habe, was es braucht" sagen zu hören.
Aber jeder Zentimeter, den ich Kian näher kam, ließ mich meine Umgebung mehr und mehr ausblenden. Jeder Millimeter, den meine Beine mich nach vorne schoben, war ein Erfolg.
Kian lag zusammengerollt vor mir. Seine Augen waren geöffnet. Er sah mich an. Er flehte um Verzeihung. Er bettelte nach einem Augenblick mehr.
Bevor meine Finger seine Hand ergreifen konnten, trat ein schwarzer Stiefel auf sie. Ein spitzer, schmerzerfüllter Schrei entwich mir.
"Du bist wie sie", erklärte die Stimme. Der Stiefel blieb auf meinen Fingern. "Sie ist auch immer dem gefolgt, was ihr Herz ihr gesagt hat."
Ich wimmerte, als der Stiefel meine Finger entließ. Ich spürte sie kaum.
Doch Entsetzen machte sich in mir breit, als die Hand nach Kians Nacken griff und ihn von mir fort zehrte.
"Ich werde dir zeigen, warum das Herz einem nur Schmerzen bereitet."
Verzweifelt sah ich zu, wie die Hände Kians Nacken in den Griff nahmen, als könnten sie ihn mit einer Bewegung zerschmettern. Als könnten sie ihn mir mit nur einer Bewegung für immer nehmen.
"Bitte nicht!" Ich erkannte meine Stimme nicht. "Bitte. Ich tue alles."
Die Hände verharrten in ihrer Position.
"Alles?"
Ich konnte der Person nicht in das Gesicht sehen. Ich blickte nur auf die Hände, die das Leben desjenigen im Griff hatten, den ich liebte.
"Alles."
Kians Augen schlossen sich schmerzerfüllt. Doch ich wusste, es waren nicht seine körperlichen Sorgen, die ihm Schmerzen zufügten.
Aber ich konnte nicht anders. Ich war zu schwach, um das durchzustehen. Ich konnte das nicht ein weiteres Mal überleben.
"Bitte. Lassen Sie ihn nur am Leben."
Die Person grinste, als wüsste sie, dass sie gewonnen hatte.
"Faszinierend, was die Liebe uns für Kompromisse eingehen lässt. Es braucht Stärke, um sich ihr zu widersetzen. Stärke, die viele, einschließlich dir nicht besitzen."
"Nein." Kian röchelte und hustete. Das Sprechen fiel ihm schwer. "Es braucht Stärke, sich auf die Liebe einzulassen; sie in seinem Leben willkommen zu heißen. Es braucht Stärke, jemanden mehr zu lieben als sich selbst. Deshalb bist du schwach. Der schwächste von uns, selbst wenn du hier gewinnst."
Die Person starrte Kian an. Ich starrte Kian an. Denn ich hatte geglaubt, ich könnte ihn nicht mehr lieben, als ich es bisher schon getan hatte. Doch ich hatte mich getäuscht. Es gab immer weitere Facetten an ihm, die mich aufs Neue faszinierten. Die ich aufs Neue lieben lernte. Ich wollte so viel mehr Zeit mit ihm. Ich wollte alles an ihm kennen und lieben lernen.
Und wenn ich dafür in Kauf nehmen musste, nie wieder frei zu sein, dann würde ich damit leben.
"Große Worte für jemanden, dessen Leben an einem seidenen Faden hängt." Die Stimme klang spöttisch. Doch ich glaubte, sie wollte nur überdecken, wie sehr Kians Worte sie verletzt hatten.
"Wenn du wirklich denkst, dass sie sich dir jemals beugen würde, bist du noch dümmer, als ich dachte." Kians Stimme war rau. Jeder Atemzug bereitete ihm mehr Probleme. "Sie wird niemals etwas tun, das gegen ihre Prinzipien geht. Sie wird jede Sekunde deines Lebens zu deiner persönlichen Hölle machen."
Die Hände pressten sich wieder stärker um seinen Nacken.
"Hör auf", flehte ich Kian an.
Verstand er nicht, dass er seinem eigenen Ende mit diesen Worten immer näher kam?
"Sie wird sich an dir rächen, dass du sie das hast durchleben lassen. Selbst ein Blinder würde das sehen. Niemals wird sie dir das verzeihen können."
Wieso tat er das? Wieso nahm er nicht den rettenden Weg, den ich ihm offenbart hatte?
"Er weiß nicht, wovon er spricht", revidierte ich seine Aussage. "Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Bitte lassen Sie ihn nur am Leben. Das ist meine einzige Bedingung. Sie können die Position einnehmen, die Ihnen gebührt. Ich werde Ihnen dabei helfen. Ich werde Ihnen nie widersprechen. Nur bitte, lassen Sie ihn am Leben."
Die Augen der Person ruhten auf mir.
"Welch schöne Worte, die du dir überlegt hast. Fast hätte ich sie dir abgekauft."
Alles in mir wurde zu Eis.
"Doch der Junge hat recht. Ich werde nie darauf vertrauen können, dass du mir nicht doch ein Messer in den Rücken stichst, sobald ich nicht aufpasse. Deine Liebe zu ihm wird immer stärker sein als deine Verpflichtung mir gegenüber." Das Gesicht verhärtete sich. "Und so wählst du den gleichen Weg wie sie."
Die Person wandte sich von mir ab. Ein Schluchzen entwich meinem Mund. Eine Vorahnung überfiel mich.
Die Hände packten Kians Nacken fester und zerrten ihn daran in die Höhe.
"Deshalb muss ich garantieren, dass du mir nicht im Weg stehen wirst, wenn du schon nicht an meiner Seite gehst. Doch zuerst", die Augen blickten auf Kian hinab, dessen Körper schlaff in den Händen hing, "werde ich mich an dir rächen, für alles Übel, das sie und du mir beschafft habt. Dafür, dass du nicht die richtige Entscheidung gefällt hast."
"Bitte nicht." Ich versuchte, zu Kian zu gelangen, doch die Person zog ihn einfach weiter von mir fort.
Ich versuchte, die Kraft in meinem Körper anzusammeln, um ihn zu retten, doch in mir herrschte Leere.
Ich versuchte, den Moment zu ändern, doch ich scheiterte kläglich.
"Bitte!", schrie ich.
"Dies ist deine Schuld." Die Stimme war wütend. "Es hätte nicht so weit kommen müssen."
"Nein! Lassen Sie ihn in Frieden!"
"Du hättest nur auf mich hören müssen."
Ein ohrenbetäubendes Knacken. Alles piepte. Die Welt wurde schwarz. Sie wurde hell. Sie leuchtete. Sie schwankte.
Ich atmete. Nicht. Ich blinzelte. Nicht. Ich sah Kian. Nicht.
Seine reglosen Augen. Sein Körper ohne Leben.
Er war fort.
Mein Herz zerbrach. Zerbrach in tausend Einzelteile. Einzelteile, die sich tief in meinen Körper bohrten. Der Schmerz war unerträglich. Es war schlimmer als alles, was ich jemals gefühlt hatte.
Ich wollte sterben. Ich wollte das nicht fühlen.
Jemand schrie. Ich schrie. Jemand zerkratzte meine Arme. Ich zerkratzte meine Arme. Jemand riss an meinen Haaren. Ich riss an meinen Haaren.
Er beobachtete mich. Ganz still. Beobachtete, wie ich dahin starb. Er hatte mir alles genommen.

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Ich blinzelte mehrmals, war wieder zurück in der Realität. Mein Kopf lag noch immer auf dem kühlen Boden. Es war ein Traum gewesen. Ein Alptraum. Eine Vorhersage.
Meine Augen suchten nach Kian. Yadier schlug weiter und immer stärker auf ihn ein. Währenddessen lächelte er. Als bereitete ihm unsere Situation das größte Vergnügen. Als wollte er nirgendwo lieber sein als hier. Als wäre er froh, dass uns alles hierher geführt hatte. Als stellte er sich bereits vor, wie es wohl wäre, mir Kian zu nehmen.

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt