•neunzig•

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Der andere Mann war in einen grauen Anzug gekleidet, der maßgeschneidert aussah. Seine braunen Locken fielen ihm beinahe bis auf die Schultern. Als er näher auf uns zukam, konnte ich mehrere Ringe an seinen Fingern erkennen. Er war etwas größer als Yadier, der immer einen Schritt hinter ihm ging.
Im Gegensatz zu Yadier vorher würdigte der Mann meine Begleiter jedoch keines Blickes. Stattdessen ließen seine braunen Augen mich keine Sekunde aus den Augen, bis er einen Meter entfernt vor mir stehen blieb. Er musterte mich, als wollte er sich davon überzeugen, dass Yadiers Aussagen über mich der Wahrheit entsprachen.
Ich hatte das Gefühl, dass alle um mich herum die Luft anhielten. Keiner rührte sich. Alle warteten darauf, was er tun würde.
"Ms Kelman, Sie sehen Ihrer Mutter unglaublich ähnlich", meinte er schließlich beinahe schon fasziniert.
"Das höre ich nicht zum ersten Mal", entgegnete ich vorsichtig und schielte Kian von der Seite an, der mir mit einem kleinen Nicken zu verstehen gab, dass ich wohl richtig reagiert hatte.

"Sie müssen wissen, dass es mich sehr schockiert hat, von ihrem Tod zu erfahren. Ihre Mutter war eine bemerkenswerte Frau. Natürlich war sie manchmal eine schwierige Person, aber sind wir das nicht alle?" Mit dieser offensichtlich rhetorischen Frage ließ er seinen Blick über Rick, Kian und meinen Dad wandern. Alle drei senkten den Blick, sobald die Augen des Mannes über sie schweiften.
Ich beobachtete das Ganze interessiert. Zumindest so lange, bis die braunen Augen erneut meine fanden.
"Denken Sie, Sie sind ab und zu eine schwierige Person, Ms Kelman?"
Seine Frage überrumpelte mich ein wenig. Aber er schien ehrlich interessiert an meiner Antwort.
"Das ist wohl davon abhängig, wie man schwierig definiert. Obwohl ich befürchte, dass ich diese Frage in jedem Fall bejahen muss."
Der Mann stieß ein kurzes, freudiges Lachen aus, das nicht nur mich überraschte. "Ich mag ehrliche Leute", erklärte er mir. "Vor allem jene, die sich selbst gut einschätzen können. Glauben Sie, dass Sie auch über dieses Talent verfügen?"

Ich war mir sehr sicher, dass auf diese Frage eine nächste folgen würde, die sich daran festsetzen würde, was ich jetzt antwortete. Deswegen nahm ich mir für meine Antwort etwas mehr Zeit. "In der letzten Zeit konnte ich mich etwas besser kennenlernen. Ich habe mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Ich glaube, dass das auch dazu führt, dass ich mich gut reflektieren kann. Obwohl mich andere Personen wohl immer anders einschätzen werden, als ich es selbst tue. Fraglich ist dann wohl eher, welche Meinung schwerer wiegt. Meine oder die der anderen?"
"Eine gute Antwort", lobte der Mann mich, von dem ich mir inzwischen sicher war, dass es sich um den König handelte. Auch wenn er sich mir nie vorgestellt hatte. Aber die Art, wie er sprach, wie er Autorität versprühte, ohne wirklich etwas dafür tun zu müssen. Manche Personen mussten sich nicht vorstellen, damit man sie einem Namen oder einer Bezeichnung zuordnen konnte. "Tatsächlich muss ich zugeben, Ihre Frage nicht beantworten zu können. Tendenziell würde ich sagen, dass die Meinung der einzuschätzenden Person am ausschlaggebendsten ist. Aber würde ich immer danach gehen, wären Sie jetzt nicht hier. Stattdessen habe ich auf die Meinung meines Beraters gehört, der mir versichert hat, Sie seien jemand, den ich besser nicht frei herumlaufen lassen sollte, um es mit seinen Worten zu sagen."

Ich konnte nicht anders, als zu Yadier zu blicken. Natürlich wunderte es mich nicht, dass das alles auf seinen Mist gewachsen war. Dennoch hatte zumindest ein kleiner Teil von mir geglaubt, dass es wirklich der König war, der mich hatte sehen wollen. Jetzt klang es aber vielmehr so, dass nur Yadiers Unmut, mich in Ruhe zu lassen, schuld daran war, dass ich gerade hier stand.
"Was halten Sie davon?", wollte der König von mir wissen. "Denken Sie, dass er recht hat?"
Mein erster Gedanke war, den Mann anzulügen. Ihm zu sagen, dass ich niemals eine Gefahr darstellen würde. Aber ich bezweifelte, dass das die richtige Herangehensweise war. Er schien mir nicht wie jemand, der es guthieß, wenn ich ihm nicht wahrheitsgemäß antworten würde.
"Um ehrlich zu sein, kann ich es verstehen, wenn Sie Bedenken hätten. Wenn Sie befürchten würden, ich würde meine Macht gegen Sie einsetzen. Und es wäre gelogen, zu behaupten, dass ich nicht in der Lage wären, Ihnen gefährlich zu werden."
"Das klingt nicht so, als spräche viel dafür, Sie in Frieden leben zu lassen, Ms Kelman." Seine Stimme klang warnend, als wollte er mich darauf hinweisen, vorsichtig zu sein, was ich als nächstes sagte.

"Sie haben mich nicht ausreden lassen. Tatsächlich hat man bereits versucht, mich für die andere Seite anzuwerben. Ich formuliere es mal etwas vorsichtig. Seien Sie sich sicher, dass man diese Entscheidung bereut hat. Eben klang es so, als kannten sie meine Mutter ganz gut. Dann wissen Sie bestimmt auch, dass sie sich nichts hat vorschreiben lassen und stets für ihre eigene Sache gekämpft hat. Nun, in diesem Punkt bin ich ihr ähnlich. Ich halte nichts davon, mich in den Dienst von jemandem zu stellen, der mich für das ausnutzen möchte, was ich bin. Dennoch kann ich verstehen, dass Sie sich Sorgen machen. Bei dem, was ich so mitbekommen habe, kann ich nur vermuten, dass die Anspannungen zwischen Ihnen und den Vampiren stetig anwachsen."
"Da liegen Sie richtig", stimmte er mir zu.
"Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht vorhabe, mich mit den Vampiren zu verbünden."
"Und da sollen wir ganz deinem Wort vertrauen? Ist dir nicht bewusst, dass hier so viel auf dem Spiel steht, dass wir nicht darauf zählen können, was du uns schlichtweg sagst." Yadier klang angesäuert. Wahrscheinlich bemerkte er, dass unser Gespräch nicht in die Richtung verlief, die er sich erhofft hatte.

Lediglich ein Zucken im Mundwinkel des Königs verriet, dass er von Yadiers Einschreiten nicht begeistert war. Allerdings sagte er auch nichts gegen dessen Einwendungen.
"Ich muss zugeben, dass das alles für mich noch recht neu ist. Ich kenne nicht die vollen Ausmaße dessen, was zwischen Ihnen vor sich geht. Doch ich denke nicht, dass das rechtfertigt, mich gegen meinen Willen hier einzusperren. Und wenn es Ihnen nicht reicht, zu hören, dass ich nicht vorhabe, Sie zu hintergehen, dann können Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich ihn niemals hintergehen würde." Ich schaute kurz zu Kian, bevor ich wieder zu dem König blickte.
Dessen Aufmerksamkeit war zu Kians und meinen verschränkten Händen gewandert.
"Ein gutes Argument. Wenn ich nicht befürchten müsste, dass Herr Morin mich hintergehen würde, wenn es bedeutete, Sie retten zu können."
"Das würde er nicht tun. Mein Sohn ist Ihnen treu ergeben." Rick sprach schnell, als wollte er sichergehen, dass der König keinesfalls an ihm oder Kian zweifelte.
Das schien dem König jedoch gar nicht zu gefallen. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dich gefragt zu haben, Rick. Ich denke vielmehr, dass dein Sohn erwachsen genug ist, um mir selbst zu antworten." Er richtete seinen Blick erwartungsvoll auf Kian.

"Ich liebe meine Art und ich stehe zu dem, was ich bin. Ich werde beides mit allem, was ich habe, verteidigen", erklärte Kian ihm. "Aber Lilith liebe ich noch mehr. Sollten Sie etwas tun, das sie gefährdet, dann werde ich nicht zögern."
Ich schluckte schwer. Er war ehrlich gewesen. Aber ich glaubte nicht, dass das seine klare Positionierung zu mir rechtfertigen konnte.
"Sie machen es mir aber auch nicht leicht." Der König schmunzelte, während Yadier hinter ihm etwas schockiert wirkte. "Als König kann ich diese Aussage keinesfalls gutheißen. Aber wer wäre ich, die Liebe nicht zu verstehen?"
"Das könnt Ihr doch nicht ernst meinen", platzte es schließlich leise aus Yadier hervor. Dennoch konnten wir ihn hören.
"Nur, weil du noch nie diese Art von Liebe gefühlt hast, bedeutet das nicht, dass du kein Verständnis für sie aufbringen kannst."
"Ich habe Liebe gespürt", entgegnete Yadier dem König. "Und sie rechtfertigt es keinesfalls, sich gegen seine Art zu stellen."
"Das ist eine traurige Aussage. Wir sollten uns immer von der Liebe leiten lassen, egal, wie schmerzvoll sie sein kann", sprach eine weibliche Stimme plötzlich.
Ich traute meinen Augen nicht, als die Person näher kam. Es war die Frau, die ich damals bei den Kobolden getroffen hatte. Was wollte sie hier?

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt