•siebenundsechzig•

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Liliths Worte hallten im Raum nach, noch nachdem sie sie ausgesprochen hatte.
Während ich mir die größte Mühe gab, mir meine Emotionen nicht vom Gesicht ablesen zu lassen, machten sich die anderen diesbezüglich wohl keine Gedanken.
Lilith hatte es mit ihrer Offenbarung sogar geschafft, Ole aus seinen Schatten zu treiben. Er entfernte sich von seiner Position an der Wand, um einige Schritte nach vorne zu treten. Wahrscheinlich versuchte er, so einen besseren Blick auf Lilith zu bekommen.
Sah Serena vorher noch gelangweilt aus, so lag ihre volle Aufmerksamkeit nun auf der Hexe im Raum. Ich hatte das ungute Gefühl, dass sich das in der nächsten Zeit nicht mehr ändern würde.
Gunther blinzelte hinter seinen runden Brillengläsern mehrmals. Er wirkte nicht so, als begriff er, was gerade geschehen war. Noch ganz durcheinander senkte er seinen Blick zu seinem Block, setzte den Stift in seinen Fingern an und zog eine gerade Linie. Vermutlich strich er durch, was auch immer er vorher hinter seine Frage geschrieben hatte. Daneben kritzelte er nun etwas Neues, von dem ich mir nur zu gut denken konnte, was es war.

Was ich auf Yadiers Gesicht erkannte, ließ mich den Drang, ihn anzuknurren, nur knapp unterdrücken. Er begutachtete Lilith mit einer solchen lüsternen Genugtuung, dass ich ihm am liebsten ins Gesicht schlagen hätte.
Seit er Lilith das erste Mal angesprochen hatte, wollte ich die beiden so weit wie möglich voneinander fernhalten.
Jetzt wirkte er weder sonderlich überrascht noch beunruhigt. Es schien mehr, als wäre seine Vermutung wahr geworden.
Gunther war der Erste, der das Wort nach dieser Offenbarung ergriff. Mit ruhiger Stimme fragte er Lilith: "Bist du dir sicher?"
Serena stieß ein belustigtes Schnauben aus und rollte mit den Augen.
Ich bekam eher den Eindruck, dass Gunther Lilith die Möglichkeit geben wollte, ihre Aussage noch einmal zu überdenken. Nicht, weil er ihr nicht glaubte, sondern weil er wusste, was es bedeutete, wenn sie wahr wäre.

"Sie müssen auf diese Frage nicht antworten", stellte Yadier fest, der seinem Sekretär mit einer flinken Bewegung den Block aus den Händen riss. "Das brauchen wir nun wohl nicht mehr."
"Sie wirken nicht überrascht." In Liliths fester Stimme war nicht ein Hauch von Bedauern zu erkennen. Sie stand aufrecht, Kinn erhoben. Ohne es wirklich zu beabsichtigen, schien es, als wäre sie diejenige, die hier das Sagen hatte. Sie strahlte eine solche Autorität aus, dass es mich gar nicht wundern sollte, warum sie alle um sich herum faszinierte.
Und das schloss mich mit ein. Trotz meines Schocks wegen ihrer Offenbarung konnte ich einfach nicht anders, als sie dafür zu bewundern. Obwohl ich ihr erzählt hatte, was es bedeuten konnte, ehrlich zu sein, hatte sie sich dafür entschieden. Für sie waren die Konsequenzen in diesem Moment nicht wichtig.
Sie wollte sich nicht länger verleugnen, sondern zu dem stehen, wer sie war. Das mächtigste Wesen, das ich in meinem Leben bisher gesehen hatte.

Das hatte ich zwar erst gestern begriffen, aber es zählte dennoch. In Vorbereitung auf den heutigen Besuch hatte ich mit meinem Vater noch einiges durchgesprochen. Es hatte mich verwundert, als er plötzlich auf das Thema Hexen gekommen war, als wir alle Möglichkeiten geklärt hatten, in die dieses Gespräch laufen könnte. Er hatte mir erzählt, dass Hexen immer ein eigenes Zauberbuch hatten, in das sie ihre Zaubersprüche schrieben. Häufig wurde dieses dann von Generation zu Generation weitergeben. Es war höchst selten für eine Hexe, Magie anzuwenden, ohne dabei einen Spruch aufzusagen. Zaubersprüche halfen, die Verbindung des Geistes mit der Natur aufzustellen.
Natürlich hatte ich sofort daran denken müssen, dass Lilith schon mehrmals ihre Magie genutzt hatte, ohne dabei in irgendeiner Form zu sprechen. Was das über ihre Kraft aussagte, konnte ich nur vermuten.

So bewundernswert das auch war, so problematisch war es leider in Zusammenhang mit unseren heutigen Gästen, die ich nun liebend gern im hohen Bogen aus dem Haus werfen würde.
Umso mächtiger eine Hexe, umso attraktiver war sie natürlich für alle anderen. Mehr Macht bedeutete mehr Möglichkeiten, diese zu seinem Vorteil zu nutzen.
Allerdings zehrte die Nutzung ihrer Kräfte natürlich auch an Hexen. Manchmal waren es Kopfschmerzen oder Übelkeit. Das war abhängig von der Menge an Macht, die sie in einem bestimmten Zeitraum ausübten.
Wenn sie also zu schnell zu viel nutzten, dann bestand durchaus das Risiko, auszubrennen. Mit anderen Worten: zu sterben.
Auch das hatte mir mein Vater gestern anvertraut. Ich hatte mich zwar gewundert, warum er so genau darüber Bescheid wusste, aber erst einmal nicht weiter nachgehakt. Die Informationen, die ich erhalten hatte, schockierten mich genug.

"Das haben Sie richtig bemerkt", meinte Yadier zu Lilith und lächelte sie breit an. Ich konnte Liliths Gesicht nicht sehen, aber was auch immer sich darauf befand, sorgte dafür, dass Yadiers Grinsen ins Schwanken kam.
"Wenn sie bereits eine Vermutung hatten, warum haben Sie sich dann überhaupt die Mühe gemacht, groß um den heißen Brei herumzureden?"
Yadier zuckte mit den Schultern. "Es gibt ein Protokoll, das es zu befolgen gilt. Abgesehen davon war ich interessiert daran, wie Sie mit dieser Information umgehen würden. Umso mehr freut es mich, dass Sie ehrlich gewesen sind."
Ich warf meinem Vater, der ungewöhnlich still war, einen Blick zu. Er saß weiterhin auf seinem Sessel. Jedoch waren seine Augen starr auf den Boden vor ihm gerichtet. Mich würde sehr interessieren, woran er gerade dachte.

Da ich wohl nicht auf seine Unterstützung hoffen konnte, trat ich neben Lilith und fragte Yadier: "Woher wussten Sie es? Sie kennen Lilith schließlich nicht."
Ole trat nun noch näher an das Geschehen heran, sodass er etwa einen Meter von Serena entfernt war. Deren Blick war noch immer auf Lilith gerichtet. Allerdings fixierte sie sie nun nicht mehr wie ein Opfer, sondern viel mehr wie einen ebenbürtigen Gegner.
"Das ist richtig. Leider konnte ich Ihre Bekanntschaft erst recht spät machen. Ich hatte mir ursprünglich gewünscht, Sie würden schon früher in meine Reichweite gelangen. Allerdings war Ihr Vater diesbezüglich nicht durchsetzungsfähig genug und Ihre Mutter zu stur."
Ungläubig starrte Lilith Yadier an, als seine Worte langsam in ihr Bewusstsein sickerten.
Das bereitete ihm natürlich nur noch mehr Vergnügen. "Sie wussten es nicht? Ich kannte Ihre Mutter. Sogar ziemlich gut. Eine Schande, dass sie so jung gestorben ist."

Zumindest bei Lilith schlug diese Bombe ein. Wie gerne hätte ich sie gefragt, wie es ihr mit dieser Information ging. Ob sie den Raum verlassen wollte. Ob sie Yadier ebenfalls ins Gesicht schlagen wollte.
Ich begnügte mich damit, ihre Hand zu nehmen und meinen Daumen über ihre Handfläche gleiten zu lassen. Dieses Zeichen der Zuneigung war wohl die geringste Überraschung, die es in den letzten Minuten hier gegeben hatte. Und ich wollte Lilith unbedingt zeigen, dass ich an ihrer Seite stand.
Ihre Schulter sackten ein wenig herunter, doch sie nahm ihren Blick nicht von Yadier. Sie taxierte ihn, als müsste sie noch entscheiden, ob sie seinen Worten trauen konnte.
"Wie ist sie gestorben?", wollte sie plötzlich wissen. Mit dieser Frage hatte niemand gerechnet. Aber ich verstand sie. Wenn Yadier davon wusste, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihre Mutter nicht auf natürlichem Wege gestorben war.
"Soweit ich weiß, waren es Vampire. Es soll wohl ein ziemlich blutiger Kampf gewesen sein, den ihre Mutter offensichtlich verloren hat. Umso glücklicher können wir doch sein, dass sie uns Sie zurückgelassen hat."

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Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt