•zweiundvierzig•

347 26 1
                                    

Als ich dieses Mal das Haus abends verlassen wollte, um mit Cody noch eine Runde zu gehen und dabei vielleicht auf meinen Wolf zu treffen, hatte Veronica keine Bedenken. Ganz im Gegenteil. Es schien, nun da sie fest davon ausging, ich würde mich in den nächsten Tagen zu einem Werwolf verwandeln, als würde sie es begrüßen, wenn ich so viel Zeit wie möglich unter dem Mond verbrachte. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass seine alleinige Anwesenheit eine Verwandlung beschleunigte, sprach ich natürlich nicht dagegen. Stattdessen lächelte ich und nickte bestätigend.
Heute war keine Ausnahme. Unser gemeinsames Abendessen war schon eine Weile her und ich hatte in meinem Zimmer gelesen, während ich meine Mathehausaufgaben auf meinem Schreibtisch geflissentlich ignorierte. Dann war Cody unruhig geworden. Zuerst hatte er im Zimmer gespielt und in der nächsten Sekunde stupste er mich durchgängig an und drückte mich von meinem Sitzplatz. Als wollte er, dass ich mich bewegte. Cody hatte fast den gesamten Tag draußen im Garten verbracht und ich war schon mehrmals mit ihm unterwegs gewesen, weshalb ich sein Verhalten nicht verstand. Allerdings hatte er schon immer gewusst, was gut für uns war, weswegen ich nicht länger nachgefragt hatte und ihm nach unten gefolgt war.

Während ich meine Schuhe anzog, wartete er ungeduldig vor der Haustür und konnte es gar nicht erwarten, hinauszugehen.
"Meine Güte, da ist aber jemand aufgeregt."
Ich hob den Kopf und sah Veronica im Flur stehen. Sie hatte ein Weinglas in ihrer Hand. Wahrscheinlich hatte sie uns die Treppe hinunter kommen hören.
Ich verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass ich nicht glaubte, Cody wäre aufgeregt. Er war nervös. Das war ein großer Unterschied, weswegen ich umso neugieriger war, herauszufinden, was es war, das ihn so fühlen ließ.
"Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Hoffentlich wird ihn ein weiterer Spaziergang etwas beruhigen."
Veronica trank einen Schluck. "Bestimmt. Geht ihr wieder durch den Wald?"
Meine Liebe zum Wald war inzwischen wohl jedem aufgefallen.
Ich nickte und nahm meinen Schlüssel, um ihn in meine Hosentasche zu stecken.
"Vielleicht findest du ja deinen Vater. Es würde mich nicht wundern, wenn er wieder mit Rick zusammen etwas zu erledigen und dabei erneut die Zeit vergessen hat. Wenn du ihn siehst, erinnere ihn doch bitte daran, dass ich auch noch existiere und auf ihn warte." Sie schmunzelte. Es schien sie nicht groß zu stören, dass mein Vater seinen Aufgaben so pflichtbewusst nachging, dass er sie manchmal vergaß.

Ich grinste und hoffte nun schon fast, dass ich ihm begegnen würde. Ich würde gerne den Ausdruck in seinem Gesicht sehen, wenn ihm bewusst wurde, dass er wieder einmal vergessen hatte, dass er auch eine Familie hatte. Zugegebenermaßen vergaß er das nicht immer. Ab und zu erschien er sogar pünktlich zum Abendessen, aber das war eher eine Ausnahme als die Regel.
"Das mache ich."
Ich öffnete die Tür und Cody huschte an mir vorbei, hinaus in die Dunkelheit. Ein Schwall kühler Luft kam mir entgegen. Ich wandte mich noch einmal um, um nach meiner Jacke zu greifen. Überrascht stellte ich fest, dass ich sie nicht finden konnte.
"Weißt du, wo meine Jacke ist?", fragte ich Veronica, die sich gerade abwenden wollte, um ins Wohnzimmer zurückzukehren.

Auf meine Frage hin runzelte sie die Stirn, bevor ihr etwas einfiel. "Die habe ich heute gewaschen. Sie war etwas modrig und es klebte feuchtes Gras an ihr. Deswegen dachte ich, ich könnte sie mitwaschen."
Der Modergeruch und das Gras stammten höchstwahrscheinlich von meinem Training, bei dem ich mich immer wieder aufs Neue hinsetzte. Dabei verschwendete ich offensichtlich auch keine Gedanken an meine Kleidung.
Sie ging zum Kleiderständer und zog eine andere Jacke hervor. "Hier, du kannst meine nehmen. Sie müsste dir nur etwas zu klein sein."
Dankend nahm ich sie an. Kaum hatte ich sie angezogen, lag mir ein feiner Geruch von Honig und Waldbeeren in der Nase, der nur von Veronica stammen konnte. Doch es störte mich nicht weiter, sodass ich Cody endlich folgte und die Tür hinter mir zuzog.

Kaum war ich draußen, legte ich den Kopf in den Nacken. Der Himmel war bedeckt. Es waren kaum Sterne erkennbar. Da konnte ich wohl umso froher sein, Cody bei mir zu behalten. Der sah immer noch besser als ich und konnte mir damit den Weg geleiten. Dafür musste ich ihn aber erst einmal finden. Denn als ich meine Umgebung betrachtete, konnte ich ihn nirgends erkennen.
Verwirrt verließ ich unser Grundstück. Er lief nie einfach ohne mich los. Ein Bellen auf meiner linken Seite ließ mich meine Aufmerksamkeit zum Wald richten. Dahin war Cody gelaufen. Auch wenn ich ihn nicht sah und sein Bellen auch einfach durch ein Echo von einem anderen Ort hätte kommen können, wusste ich, dass er dort war. Ich wusste es mit einer Gewissheit, die nicht natürlich war.
Da ich herausfinden wollte, was ihn dazu brachte, sich so zu verhalten, verschwendete ich keine weitere Zeit und beeilte mich, ihm zu folgen.
Doch es war egal, wie schnell ich war, Cody lief immer weiter fort. Er wartete nicht auf mich, sondern trieb mich vorwärts.
Ich war dankbar für meine Verbindung zur Natur, die es mir erlaubte, nicht in irgendwelchem Gestrüpp hängen zu bleiben oder über eine Wurzel zu stolpern. Ich kam ungehindert weiter. Gegen meine langsamen menschlichen Beine und meine schlechte Kondition konnten allerdings auch meine magischen Kräfte mir nicht helfen.

"Cody", rief ich ihm irgendwann entgegen, doch aus das brachte ihn nicht zum Stoppen.
Ich spielte mit dem Gedanken, einfach anzuhalten und zu warten, bis er sich wieder einkriegte. Wäre da nur nicht dieses Gefühl, dass es wichtig war, was er mir zeigen wollte. Cody hatte ein Ziel. Er wollte mich zu etwas hinführen.
Meine Neugierde verleitete mich dazu, wieder schneller zu werden. Ich hatte schon lange keine Orientierung mehr. Es war so dunkel um mich herum, dass ich kaum einen Baum ausmachen konnte, der auf meinem Weg lag. Ich vertraute vollkommen auf mein Bauchgefühl, das mich anwies, weiter nach links zu rennen. Ein Bellen hatte ich von Cody auch schon länger nicht vernommen. Es war, als gäbe er sich Mühe, möglichst leise voranzukommen. Aber ich wusste, dass er weiter rannte, dass er noch nicht angekommen war.
Meine Atemlosigkeit und meine Seitenstechen ließen mich sogar die Wesen vergessen, die in diesem Wald zu Hause waren. Ich dachte nicht darüber nach, wie ich handeln würde, wenn ich auf einen Werwolf oder noch schlimmer einen Vampir traf.
Glücklicherweise musste ich das auch nicht.
In der Ferne sah ich plötzlich Licht. Es kam aus mehreren Richtungen, als würde es einen Platz erleuchten.

Ich erschrak, als auf einmal etwas mein Bein streifte. Es war Cody. Ich beugte mich zu ihm herunter und schloss ihn in die Arme, während ich in sein Fell murmelte: "Was ist es? Was wolltest du mir zeigen?"
Sanft stupste er mich mit seiner Nase vor. Ich ging auch die letzten Schritte, bis ich an dem Waldrand ankam. Nun erkannte ich auch, wo ich war. Das war das Herrenhaus. Ich war bei Kian Zuhause.
Ich runzelte die Stirn und sah erneut zu Cody. Der saß neben mir und hechelte schwer. Sein Blick war allerdings auf den hell erleuchteten Vorplatz des Hauses gerichtet. Da er mich nicht weiter vordrängte, blieb ich weiter zwischen den Bäumen versteckt und suchte nach etwas, das mir ein Anzeichen darauf gab, warum er mich hierher geführt hatte.

Dann sah ich drei Gestalten an der Treppe, die zum Herrenhaus führte. Der Wind brachte ein wenig Gemurmel zu mir, von dem ich nur schließen konnte, dass es sich um männliche Personen handeln konnte. Einer der Männer entfernte sich immer weiter von den beiden anderen, als wollte er eigentlich nicht an dem Gespräch teilnehmen.
Doch die zwei Männer folgten ihm. Das ging so lange, bis sie nah genug waren, dass ich alle drei erkannte. Rick, mein Vater und Kian. Dem Anschein nach waren sie noch immer in eine hitzige Diskussion verwickelt. Keiner schien mich zu bemerken.
Ich wollte mich schon erneut fragend zu Cody wenden, als Kian den Kopf schüttelte und seinen und meinen Vater einfach stehen ließ, als er sich erneut von ihnen entfernte. Dieses Mal gingen ihm die Männer nicht nach, stattdessen sagte mein Vater etwas zu Rick, der seine Aufmerksamkeit aber noch immer seinem Sohn widmete.
Dieser streifte wortlos seine Jacke ab, rollte die Schultern nach hinten und verwandelte sich mit einem Sprung. Ich war so fasziniert von seiner Wandlung, dass mir erst später bewusst wurde, warum mir seine wölfische Gestalt so bekannt vorkam. Warum ich nur starkes Vertrauen verspürte, als ich seine rotbraunen Augen bemerkte.
"Was zum Teufel?"

¤¤¤

Zwischen Liebe und LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt