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AMELIA

Der laue Wind pustet mir die Haare von den Schultern. Die Yacht ankert noch immer vor den Toren der Stadt, in himmelblauem Wasser. Den ganzen Tag, habe ich mich nur entspannt. Timéo fummelte die meiste Zeit an seinem Telefon und wenn nicht, sonnte er sich auf einer der zahlreichen Liegen. Wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sogar mit den Angestellten, habe ich heute mehr gesprochen als mit ihm. Vor einer Weile bereits haben sie mich nach meinem Essenswunsch zum Dinner gefragt. Jetzt geht die Sonne hinter mir unter und wirft goldenes Licht auf die Stadt.
Wir sind nicht die einzigen, die sich hier befinden. In Sehweite Ankern noch ein Dutzend mehr Boote, fast keine so groß wie dieses, und keins so nah, dass sie uns beobachten könnten. Ich mag es hier. Es ist friedlich hier draußen, weit weg von dem Trubel, der sich am Festland abspielt. Ich fühle mich, als könnte ich das erste Mal wieder durchatmen, seit ich hier angekommen bin. Vielleicht auch schon länger.
Ich weiß gar nicht, wann ich das das letzte Mal in London von mir sagen konnte. Ich meine damals, als ich noch für Scotland Yard gearbeitet habe. Mein Leben bestand aus aufwachen, Arbeiten, schlafen gehen. Manchmal nicht mal das. Ich kann mich noch zugut an den zweiwöchigen Intensivkurs über Leichenaufspürung erinnern, die ich in den englischen Wäldern verbracht habe. Dort konnte man nie richtig schlafen. Das war das erste Mal, dass ich mehr als vierundzwanzig Stunden am Stück wach war. Das zweite Mal dann, bei Sergio im Keller. Die meiste Zeit über war ich allerdings so von den Drogen benebelt, dass ich nichts mitbekommen habe. Bis heute erinnere ich mich nur Schemenhaft an die Zeit im Keller. Wenn man so lang in einem dunklen Raum allein ist, fängt man an Stimmen zu hören. Sie kriechen aus jeder Ecke und reden auf einen ein, als würden sie dich beeinflussen wollen. Sie hinterfragen deine Entscheidungen. Jede die du in deinem Leben getroffen hast. Sie diskutieren mit dir, reden dir Dinge ein, aber am schlimmsten von allen - sie lassen dich nie in Ruhe. Selbst wenn du aus dem Keller geholt wirst, und du anderen Menschen begegnest, sind sie präsent. Solang bis du wieder in die Dunkelheit befördert wirst und sie deinen Körper einnehmen wie Dämonen. Du halluzinierst, siehst plötzlich Bilder. Die Drogen haben kranke Bilder in meinem Kopf gebildet. Es hat eine Ewigkeit gebraucht, die Stimmen und Halluzinationen loszuwerden. Jetzt verschafft mir der Gedanke an einen Raum ohne Fenster, Angst. Schreckliche Angst, der ich mich nicht stellen will. Niemals.

Blinzelnd senke ich meine Augen von der Stadt weg auf das blaue Meerwasser. Es muss unglaublich warm sein. Zumindest schaut es aus wie das kristallklare Wasser der Karibik. Ich will es unbedingt einmal an meiner Haut spüren. Die Wärme, das Salz, die Wellen. Es zieht mich an wie eine Sirene auf der Jagd nach ihrer Beute. Es ist einen Versuch wert, die Gedanken und Bilder für einen Moment hinter mir zu lassen. Ich brauche dringend eine Pause von dem sich ständig wiederholenden Film in meinem Kopf.
Langsam löse ich meine Hände von der Reling und laufe auf die Treppe zu, die mich bis nach unten auf das Schwimmdeck führen wird. Drei Stockwerke hinab laufe ich, ohne dass mir jemand über den Weg läuft. Es ist still auf dem Boot. Weder Angestellte noch Timéo begegnen mir. Es ist schön, mal allein zu sein. Es ist das erste Mal, seit ich hier bin, dass ich nicht überwacht werde. Vermutlich, weil Timéo die Yacht hat soweit herausfahren lassen, dass ich bei dem Versuch, zum Festland zurück zu schwimmen, ersaufen würde. Dumm ist er nicht, sogar sehr gerissen. Und zugegeben, ist es hier gar nicht so schlimm im Moment.

Unsicher werde ich einen Blick über meine Schultern, um sicher zu gehen, dass mich niemand beobachtet. Ich fühle mich nüchtern so gar nicht wohl, mich vor anderen Leuten auszuziehen. Gestern Abend war das anders. Im Pool wusste ich, dass niemand kommen würde, obwohl quasi jeder hätte reinplatzen können. Es waren die Security Männer, die mir dieses Gefühl verliehen haben. Jetzt bringt mich allein der Gedanke um, dass einer der Angestellten mich so sehen könnte. Normalerweise bin ich nicht so, aber die Male auf meinem Körper sind noch immer zu sehen. Ich will nicht, dass mich jemand so sieht.
Niemand ist hier. Auf der Schwimmplattform ist es ruhig. Sie liegt nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Das Meer ist ruhig, so sanft wie das Schaukeln einer Kinderwippe. Mit klopfendem Herzen entledige ich mich meiner Hose und dem Oberteil. Meine langen blonden Haare fallen über meinen nackten Rücken und so fühle ich mich etwas wohler. Ich sinke auf das warme Teakholz. Die Sonne hat den ganzen Tag auf es geschienen und so wärmt es meine Haut, als ich darauf platznehme und meine Füße ins Wasser stecke. Eine Welle schwappt über meine Zehen und lässt mich erschaudern. Nicht weil es kalt ist, sondern da es herrlich warm ist. Ausatmend lasse ich meine Beine bis zu den Knien im Wasser baumeln und schaue auf die See hinaus. Zwischen uns und der Stadt müssen zwei Kilometer liegen, so weit sind wir draußen. Marseille funkelt in der goldenen, untergehenden Sonne mit seinen Lichtern, die nach und nach die Fenster der vielen Häuser erleuchten.
Ich gönne mir diesen Moment der Ruhe. Nur das Rauschen des Meeres und die leisen Klänge von Musik, die sich irgendwo auf einem der oberen Decks abspielt. Es ist wahnsinnig erfrischend, mal an nichts denken zu müssen. Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken, atme tief ein und aus. Es fühlt sich an, als wurde gerade die Last der Welt von meinen Schultern genommen.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt