AMELIA
Meine nackten Zehen berühren die Schwelle der Tür und lassen mich innehalten. Ich stehe bereits eine geraume Zeit hier, ohne mich vom Fleck bewegt zu haben. In der Ferne höre ich, neben dem dumpfen Klappern von Tellern, nichts. Es ist mucksmäuschenstill im Haus und das treibt meinen Puls ungeahnt in die Höhe. Irgendwie macht es die Sache spannender, so wie in einem Actionfilm, in dem die Musik stoppt, kurz bevor etwas passiert. Nur leider bin ich nicht die Protagonistin, die das Glück immer auf ihrer Seite hat. Ganz im Gegenteil, vermutlich bin ich der Charakter, der am Ende stirbt. Mit dieser schaurigen Prognose fällt es mir jedoch ungewöhnlich leicht, die Schwelle endlich zu übertreten. Vielleicht weil ich weiß, dass dies hier kein gutes Ende hat. Ja, ich wollte vorerst die Gute spielen, zumindest bis er mir vertraut. Aber das ist gar nicht so einfach, wenn alles in einem schreit, es einfach zu wagen. So wie jetzt.
Kälte kriecht vom Boden in meine Fußballen und breitet sich von dort aus in meinem gesamten Körper aus. Die Räume sind modern eingerichtet, aber irgendwas sagt mir, dass sich vermutlich alte Keller unter dem Boden verstecken müssen. So tief und so groß, dass keine Heizung der Welt dies verbergen könnte.
Neugierig wandern meine Augen über die schweren Bilderrahmen. Die warme Farbe der Wände und die dunklen Rahmen harmonieren gut zusammen und verleihen dem langen Flur eine gewisse Gemütlichkeit. Das Haus spiegelt so gar nicht den Besitzer wider. Der Franzose ist das komplette Gegenteil seines Besitzes. Arrogant und großkotzig. Naja, vielleicht ist er einfach nur unfreundlich. Ich weiß nicht, was es ist, und ich will sicher nicht herausfinden, was wirklich hinter seiner Maske lauert. Im Moment brauche ich antworten und muss mich orientieren können.Ich laufe einige Meter geradeaus, bevor sich der lange Flur zum ersten Male abzweigt. Einmal nach links, einmal nach rechts. Meine Augen huschen hin und her. Welchen Weg soll ich nur gehen? Von der einen Seite dringt nichts als pure Stille auf mich ein, von der anderen höre ich erneut das Klappern von Porzellan. Es fällt mir nicht schwer, nach links, in den ruhigen Flügel des Hauses abzubiegen. Auch hier durchquere ich endlose Flure geschmückt mit Gemälden. Dunkle Böden und schummriges Licht. Dennoch klopft mir das Herz bis zum Hals. Gerade deshalb, da plötzlich Schritte und Stimmen durch die Flure hallen. Erschrocken verstecke ich mich hinter einer der Wände zwischen zwei Bildern und lehne mich gegen den weißen Putz. Ich verstehe die Sprache, die sie sprechen nicht, da ich französisch so gut beherrsche wie Mandarin. Im Grunde genommen gar nicht. Die zwei tiefen Stimmen scheinen nicht allzu angespannt zu sein. Der eine lacht, während der andere ihm etwas erzählt. Ich halte die Luft mit klopfendem Herzen an, als sie den Flur gleich neben mir passieren. Presse meinen Körper so fest gegen die Wand, das ich fürchte gleich in ihr zu verschwinden. Hinter meinem Rücken wird das Geplauder leiser und ihre Schritte klingen ab. Skeptisch öffne ich erst ein Auge, um zu schauen ob die Luft rein ist, bevor ich das zweite öffne und die angestaute Luft aus meinen Lungen dränge. Während mein Herzschlag sich langsam normalisiert, setze ich meinen Weg fort. Ich laufe in die Richtung, aus der die Männer kamen. Vorbei an unzähligen Fenstern entdecke ich einen Vorgarten mit großem Tor und hohen Mauern. Dahinter Häuser. Wir müssen noch in der Stadt sein.
Am Ende der Fensterreihe, führt eine breite Steintreppe hinab in einen Keller. Mit meiner Vermutung von vorhin also, lag ich richtig. Meine Finger berühren den Handlauf zögerlich, als ich den ersten Schritt nach unten mache. Die Stufen sind unter meinen Zehen so kalt, dass das Adrenalin in mir erneut durch meinen Körper schießt. Ich bin angespannt, als würde mich gleich jemand entdecken, aber auch so unglaublich neugierig, dass ich mich selbst nicht stoppen kann. Ich will herausfinden, woher die Stimmen kommen, die sich durch den Keller drängen. Hier unten ist es eisig kalt, was auch das warm goldene Licht an den Stirnwänden nicht vertuschen kann. Wieder geht es nach rechts oder links. Nur diesmal entscheide ich mich für die andere Richtung und gehe tiefer in die alten Tunnel hinein. Die polierten Sandsteinböden führen mich ferner von der Treppe hinweg unter das Haus. Die Gänge sind verwirrend und so verzwickt wie in einem Maislabyrinth. Ob sich hier bereits in der Vergangenheit jemand verlaufen hat? Wenn nicht, werde ich sicher die erste sein.

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King of Marseille | 18+
Romance»Ma chérie, komm zu mir kleines. Abhauen kannst du ohnehin nicht.« Als Geschenk für einen Freund, wird die junge Polizistin Amelia nach Frankreich entführt, um dort den Juwelendieb Timéo zu heiraten. Aus dem anfänglichen unbändigen Hass den sie auf...