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AMELIA

Quälend kratzen meine Finger über die kalte Eisentür, die mir den Weg in die Freiheit versperren. Es ist dunkel und kalt in dem Raum, in dem sie mich eingesperrt haben. Und alles, wirklich alles erinnert mich an London... An Sergios Keller...
Als sie mich vor zwei Tagen herbrachten, habe ich sie angeschrien, sie getreten und geschlagen, sie angefleht mich rauszulassen. Doch niemand hat auf mich gehört. Wie Sergios Männer damals, habe auch sie mich an eine Eisenkette gelegt und mich allein gelassen. Allein ohne Wasser oder Essen. Immer wieder spüre ich, wie meine Wunde an der Stirn aufplatzt und frischen Blut über das verkrustete auf meinem Gesicht läuft. Der Schmerz in meinem Unterleib hat nachgelassen. Immer wenn ich etwas zwischen meinen Beinen glaube zu fühlen, denke ich, dass es Blut ist. Aber da ist nichts. Das ist gut, oder? Kein Blut, meine ich. Es bedeutet das alles okay ist da drin. Bist du okay da drin?

Mit zusammengekniffenen Augen lasse ich meine Arme sinken und rutsche langsam über den eisigen Boden zurück in meine Ecke. Dort ziehe ich mir das Shirt über die Knie und umschlinge meinen Körper mit meinen Armen, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Es ist so pechschwarz, dass ich nicht mal meine Hände sehe. Mir ist antarktisch kalt. Die Jacke und Schuhe haben sie mir abgenommen, bevor sie mich eingesperrt haben. Timéos Shirt und die dünne Hose, halten mich kaum warm. Mein Herz pumpt seit zwei Tagen angestrengt in meiner Brust, und ich glaube jeden Moment, dass es stehenbleiben könnte. Das tut es nie. Es hält mich am Leben.
Je länger ich allein mit mir in diesem Zimmer bin, desto schlimmer werden die Gedanken, sie sich einen Weg zurück in meinen Kopf suchen. Die Erinnerungen, die ich bei Timéo verdrängen konnte. Doch jetzt hageln sie alle auf mich ein wie Kugeln und ich kann sie nicht stoppen. Bilder ziehen wie Filme vor meinen Augen entlang. Wie sie mich verschleppten, unter Drogen setzten und Sergio mich vergewaltigte. Ich spüre seine Hände auf mir, seinen Schwanz in mir, sein ekliges Stöhnen und die gehässige Lache. Mein Körper erbebt unter Schluchzern. Tränen verlassen meine Augen keine. Ich habe schon zu viel geweint, um noch welche übrig zu haben...

~

Das nächste Mal, als ich zu mir komme, höre ich das Entriegeln der schweren Eisentür. Sie wird aufgestoßen und kaltweißes Licht blendet mich. Stöhnend halte ich mir die Hände vor die Augen und versuche dem grellen Licht zu entkommen. Gleichzeitig entspannt sich mein Herz ein wenig, da ich nun nicht mehr in der verschluckenden Dunkelheit sitzen muss. Endlich.
Ein Mann tritt in den Rahmen, sein Schatten schirmt mich vom Licht ab, auch als er auf mich zukommt und vor mir in die Knie geht. Erst jetzt fällt mir auf, dass er ein kleines Tablett in der Hand hält, auf dem sich Essen befindet. Wow.
»Hast du dich schon eingelebt?«, fragt er mit angsteinflößender Stimme. Schluckend wandern meine Augen an ihm hinauf. Das Gesicht kenne ich. Es ist der Typ, der mir gegenüber im Auto saß, als sie mich verschleppten.
»W-wo bin ich?« Meine Stimme hört sich rau und kratzig an, weil meine Stimmbänder sich anfühlen, als hätte ich sie mit einer Pfeile geschliffen. Hustend schlage ich mir die Hand vor den Mund und schlinge die Arme wieder um meinen Körper. Aus Schutz.
»Du siehst Scheiße aus, kleines Ding.«
»Was ist mit Riley und ... und Ben?«
»Wer soll das sein?«
»Die Männer, die bei mir wahren.«
Er winkt ab und neigt seinen Kopf kurz über die Schulter, um die zwei Männer anzusehen, die an der Tür Wache stehen. Eine Antwort gibt er mir nicht mehr auf meine Frage.
»Dein Name ist Amelia, nicht wahr?«
»Woher kennen Sie mich?«, frage ich ihn. Meine Augen huschen immer wieder zu dem Teller Essen zwischen uns. Dem älteren Mann mit kurzem grauen Bart fällt das ebenfalls auf. Er lacht kalt, deutet mir aber zuzuschlagen. Gierig hasche ich nach dem Sandwich, dass auf dem Teller liegt und stopfe es mir mit großen Bissen in den Mund. Gott schmeckt das gut ... Fuck. Ich hatte total vergessen, wie hungrig ich gewesen bin. Hier unten verliert man jegliches Gefühl für Realität oder Zeit. Auch das meines Magens hat sich irgendwann eingestellt. Bis jetzt.
»Mein Neffe hat dich geheiratet. Er war nicht mal so nett mir ne Einladung zu schicken.« Zunge schnalzend schüttelt er seinen Kopf. Die Missbilligung in seinem Blick ist kaum zu übersehen. Hustend reiße ich die Augen auf. »Sie... sie sind ... sein ... Onkel?« Mir bleibt das Toastbrot fast in meiner trockenen Kehle stecken. Gierig leere ich das Glas Wasser, dass er mir mitgebracht hat.
»Mathieu Moreau«, stellt er sich vor und zieht seinen imaginären Hut. Verwundert fahren meine Augen über sein Gesicht. Tatsächlich besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu Timéo. Wenn auch nur sehr schwach. Was ... wieso tut er das?
»Wieso halten Sie mich hier fest?«
»Weil ich dich eher gefunden habe, als er.«
Er erklärt es so simpel, dass ich glaube ihn interessiert das überhaupt nicht. Was läuft hier?
»Hören Sie«, beginne ich, »Ich weiß nicht, was sie für ein Problem mit Timéo haben, aber er ...« Ich muss heftig schlucken, um die nächsten Worte über die Lippen zu bringen. »...er hasst mich. Ich habe eigenhändig dafür gesorgt, dass er mich hasst. Falls sie sich erhoffen etwas von ihm zu bekommen, nur weil sie mich hier festhalten, dann muss ich sie enttäuschen.« Timéo würde nie im Leben einen Finger krümmen, nachdem ich in einer Nacht und Nebel Aktion aus seinem Haus gerettet wurde. Er schiebt vermutlich genug Hass auf mich für sieben Leben vor sich her. Nein, dass ... er würde nicht kommen.

»Da schätzt du meinen Neffen falsch ein, kleines. Vielleicht bist du ihm nicht mehr wichtig, wenn es stimmt, was du behauptest. Aber seinem leiblichen Kind, würde er da nicht alles tun, um es wieder zu bekommen?«, fragt er ernst und legt den Kopf schief. Stumm schiebe ich mir einen weiteren Bissen des Sandwichs in den Mund und antworte nicht darauf. Ist das eine Fangfrage?
»Du musst nicht so tun, Amelia. Ich kenne dein kleines Geheimnis«, spricht er, und in mir zieht sich alles zusammen. »Lass mich einfach gehen«, bitte ich ihn ruhig, »bitte.«
Er lacht erneut auf, diesmal noch angsteinflößender als zuvor. »Das hättest du gern, Blondchen. Nein... Du wirst ein wenig bei mir bleiben, okay?«
Ich schüttle meinen Kopf. »Nein!«
»Doch!«
»Nein bitte, ich ... Ich kann hier nicht bleiben!«, versuche ich diesem dummen Franzosen klarzumachen. Das geht einfach nicht! Hier ist es viel zu kalt und dunkel. Ich brauche Essen und einen Arzt, der mir sagt, ob alles okay mit meinem Baby ist. Ich muss das doch wissen!

Der grauhaarige erhebt sich, und ich packe schnell seinen Fuß, damit er nicht geht. »Bitte«, flehe ich, »ich will gehen! Bitte lasst mich nicht hier unten! Ich verspreche ich werde Timéo nie wieder über den Weg laufen aber bitte, bitte lasst mich gehen. Ich brauche einen Arzt und-«
»Iss auf und hör endlich auf mit dem dummen Gelaber. Kaum zu glauben das mein Neffe sich das Geschwätz jeden Tag angetan hat. Frauen. Du wirst hier sterben, kapier das endlich. Vor oder nach deinem Kind, dass liegt allein an dir!«
Mit diesen Worten, die er mir zu spuckt, wimmelt er meine Hand ab und stapft auf die Tür zu. Mit einem Schrei schmeiße ich das leere Glas nach ihm, das krachend vor die Tür fliegt, die er rechtzeitig zugezogen hat, bevor es ihn getroffen hätte.
»Ihr Arschlöcher!«, schreie ich ihnen so laut ich kann hinterher. Ich kann nicht mehr...

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt