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AMELIA

Ein Gähnen entwischt mir, neben Timéo im Aufzug stehend. Vor uns drei Bodyguards, die mir die Aussicht auf die goldenen Fahrstuhltür versperren. Ich fühle mich zwischen den vielen Männern wie eine Gefangene. Oder eine Geisel.
Sie umzingeln ihn, als wäre er der Präsident von Frankreich, oder ein Prominenter. Dabei hat er einfach nur Geld. Reicher Schnösel. Kennt sich mit Kunst, Schmuck und Wein aus. Natürlich.
Überraschenderweise, lassen die Bodyguards uns allein in die Suite treten. Timéo wechselt ein paar knappe Worte mit ihnen auf Französisch, während ich durch die Zimmer des Hotels schlendere. Es ist düster im Apartment, nur wenige Lampen erhellen die Wände und verleihen der Suite ein gemütliches Ambiente. Als ich ins Schlafzimmer schlendere, entdecke ich einen Wagen neben dem Bett stehen. Verwundert erleichtere ich mich meines Mantels, den ich unachtsam auf die kleine Sitzlandschaft im Zimmer werfe und die Schuhe neben der Tür landen. Mit nackten Füßen tapse ich über das dunkle Parkett, auf den flauschigen Teppich vor dem Bett. Mein Gesicht spiegelt sich in den silbernen Glocken, über den Tellern, und lege sie beiseite. Ich hebe sie an, und entdecke überrascht allerlei Desserts unter ihnen. Panna Cotta, Creme brûlée, Kuchen und verschiedene Snacks wie Gebäck. Drei dampfende Kannen. Kakao, Tee und Kaffee. Verblüfft starre ich auf den prall gefüllten Servierwagen. Hatte Timéo da seine Finger im Spiel?

»Wie ich sehe, hast du es schon entdeckt«, erklingt seine raue Stimme im gleichen Moment. Ich schnappe mir eine Erdbeere, wirble herum und lasse mich rückwärts aufs Bett fallen. Somit hätte sich meine Frage auch erledigt. Timéo war es. Hätte ich nicht von ihm gedacht.
»Mhm, eigentlich war ich satt«, murmle ich kauend und starre an die mit Stuck besetzte Zimmerdecke. Es ist dunkel im Raum, da keiner von uns sich die Mühe gemacht hat, das Licht einzuschalten. Nur gedimmte Strahlen aus dem Flur, und einige Lichter der Stadt erhellen es.
Seit mein Rücken die weiche Matratze berührt hat, fühle ich jeden einzelnen Knochen in meinem Körper. Mir tut alles weh, nach diesem anstrengenden Tag, und ich merke erst richtig, wie erschöpft ich eigentlich bin. Vielleicht hat der Wein auch nicht gerade wenig dazu beigetragen.
Ich höre wie Timéo sich seines Jacketts entledigt. Stoff reibt über Stoff, dann das Klicken eines Gürtels. Ich mache mir nicht die Mühe ihn anzuschauen. Seine Schritte entfernen sich sowieso in Richtung des Schranks, in den das Personal unsere Kleidung sortiert hat.
»Der Juwelier wird siebzehn Uhr hier sein. Danach wird eine Dame kommen, die dich für den Abend herrichten wird«, erklärt er mir. Ich schnaufe und schiebe mir den Rest der Erdbeere in den Mund. »Sag doch einfach das ich sonst zu hässlich bin, um deine Begleitung zu sein, Napoleon«, nuschle ich.
»Wenn du dir das einredest, wird es auch irgendwann so sein, Queen Elizabeth.«
»Außerdem hab ich nicht mal was zum Anziehen, für einen solchen Anlass«, merke ich an. Immerhin hat er mich einfach hierhergeschleppt. Ich besitze nichts. Alles, was ich trage, habe ich zuvor noch nie gesehen. Die Blusen, feinen Hosen und teuren Accessoires. Mir fällt es schwer nicht an den Preis dieser Gegenstände denken zu müssen. Das bin nicht ich.
»Für deine Garderobe ist gesorgt, chérie.«
Seine Stimme klingt plötzlich wieder so nah. Ich schiele links hinunter, dort wo der Servierwagen neben dem Bett steht. Der Franzose davor. Sein Hemd um mehrere Knöpfe lässig geöffnet, den Gürtel abgelegt und die Ärmel bis an die Ellenbogen gerollt. Er wirkt anders als heute Vormittag. Schweigend greift er sich etwas vom Tisch, und tritt vor mich. Schluckend würge ich den letzten Bissen der Erdbeere herunter und verfolge seine Schritte ganz genau. Er beugt sich über mich, und seine plötzliche Nähe löst ein merkwürdiges Gefühl in mir aus. Sein einzigartiger Duft zieht mir in die Nase. Eine Portion Macht, gemischt mit Minze und einer erdigen Note. Ich halte meine Luft an.

Sein Schatten, schirmt mich vom Rest fest Raumes ab. Seine Hand neben meinem Kopf in die Laken, die andere taucht vor meinem Gesicht auf. Zwischen seinen Fingern hält er eine mit Schokolade überzogene Erdbeere, die er mir vor die Lippen hält. Seine Augen erkunden mein Gesicht gründlich, und ich bin froh, dass er nicht merkt, wie schnell mein Herz schlägt. »Mach den Mund auf, ma chérie«, raunt er mir rau entgegen. Schauer rinnen über meinen Körper.
»Wieso?« Unsere Blicke treffen sich, das Grün seiner Iriden frisst sich tief in die meine. Es ist so tief wie die Wälder im Amazonas. So unglaublich sattgrün und doch so düster. Die Dunkelheit, die in ihnen lauert, raubt mir fast den Atem.
»Weil ich es sage, chérie.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Wieso fällt es dir so schwer?«, fragt er mich ehrlich. Herzklopfend versinke ich in seinen moosgrünen Iriden. Der Wein in mir, gibt mir das übrige. Sie sind wunderschön. Still öffne ich meine Lippen, und lasse sie mir von ihm sanft zwischen sie schieben. Ich beiße hinein. Die Schokolade knackt und erfüllt den Raum mit ihrem Klang. Der saftig süße Geschmack macht sich in meinem Mund breit und ein Seufzen entflieht mir. Zufrieden steckt sich Timéo die andere Hälfte der Beere in den Mund. Seine Hände auf beiden Seiten neben meinem Gesicht in die Laken gestemmt, befindet er sich über mir. Einige Strähnen seiner so perfekt sitzenden Haare haben sich gelöst, hängen mir entgegen. Ich weiß nicht was mich dazu bewegt, die Hand zu heben und sie ihm vorsichtig aus der Stirn zu streifen. Natürlich halten sie nicht und fallen zurück. Der Franzose schaut mir undeutbar entgegen. Seine Augen plötzlich so verschlossen wie zuvor. Gerade noch standen sie wie die Tore zu seinem inneren offen, nun sind sie fest verschlossen. Seine Iriden wandern meine Nase entlang, bis zu meinen Lippen, auf denen sie verharren. »Wieso schaust du mich so an?«, wispere ich fragend. Er scheint mir keine Antwort geben zu wollen. Stattdessen drückt er in einem Moment meiner Unachtsamkeit, seine Lippen gierig auf meine.
Ich stocke, brauche einen Moment, um zu realisieren, das er mich küsst. Das seine weichen, nach Erdbeer schmeckenden Lippen, sich rhythmisch bewegen, noch bevor ich die meine Bewegen kann. Meine Augen klappen flatternd zu, und als sich seine Zunge in meinen Mund schiebt, reißt er mich aus meiner Starre. Ein Keuchen entweicht er, und dies scheint er als Einladung zu sehen, mir seine Zunge tiefer in den Mund zu schieben. Sein Kuss ist anders als der im Keller. Weniger forsch, nicht so stürmisch und dennoch intensiv. Er weiß, was er tut. Verdammt, wieso tut er das? Napoleon will mich verunsichern. Ich rieche ihn, ich schmecke ihn, ich fühle seine Hände an meinem Körper.

Plötzlich zucken Blitze durch mein Gehirn. Ich sehe Bilder vor meinem inneren Auge. Ich, wie ich im Keller der Karakovs bin. Wie seine Männer mich in sein Zimmer schleifen und wie ich ... wie er mich ...
Ruckartig stoße ich Timéo von mir und krieche rückwärts über das Bett von ihm weg. Timéo trifft mein Schlag so unerwartet, dass er einige Schritte zurückstolpert, mit dem Rücken gegen die Wand prallt und verwirrt auf mich hinabschaut. Er weiß nicht was in mir vorgeht. Wie mein Herz rast, mein Puls in der Höhe ist, wie das Adrenalin meinen Körper flutet und ich mich augenblicklich zurück in London fühle. Dort in seinem Zimmer, wo es geschehen ist.
»Amelia«, stößt er verwundert aus und macht einen Schritt auf mich zu, aber ich strecke meine Hand schützend aus und krieche rückwärts vom Bett. »Nicht«, stoppe ich ihn und bin augenblicklich froh, dass das Bett zwischen uns ist. »Lass mich bitte in Ruhe, Timéo«, flüstere ich zitternd. Ich will nicht weinen vor ihm, aber es fällt mir von Sekunde zu Sekunde schwerer. Beschwichtigend hebt er seine Hände, um mir zu zeigen, dass er nicht vorhat etwas zu tun. Ratlosigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er weiß nicht was los ist, und ich ebenso wenig. Ich brauche einfach Abstand. Schluckend versuche ich die Erinnerungen in meinem Kopf zu verdrängen, was mir unglaublich schwerfällt. Sie Quellen aus allen Ecken hervor wie Ungeziefer. Keuchend kneife ich meine Augen zusammen. Verdammt nochmal!
»Ich muss noch etwas am Laptop arbeiten«, spricht Napoleon schließlich ruhig zu mir.
»Geh erstmal duschen, Amelia.« Er wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er sich einen Teller vom Wagen schnappt, und sich zum Gehen umdreht. Sobald er weg ist, breche ich zitternd zwischen Bett und Fenster zusammen und lasse die Tränen über mich hineinbrechen. Ich will nicht schwach sein, aber jede Erinnerung die an mir nagt, macht es mir schwerer, die starke zu spielen.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt