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AMELIA

Nervös fummeln meine Finger an der zugeknoteten Tüte, die Riley mir vor einer halben Stunde gebracht hat. Er hat keine Fragen gestellt und dafür bin ich ihm dankbar. Außerdem hat er mir einen Wecker mitgebracht, der sogar Radio hat und mir das Datum anzeigt. Ich habe mich mehrmals bei ihm bedankt und mich dann ins Badezimmer zurückgezogen. Nur in Timéos altes Shirt gekleidet, sitze ich nun auf dem geschlossenen Toilettendeckel und grüble über das Ding in meiner Hand nach. Ich weiß, was sich in der Tüte befindet, und trotzdem bin ich schrecklich nervös und neugierig. Ein Teil in mir will nicht, dass ich die Tüte überhaupt öffne, und der andere drängt mich, es endlich zu tun. Gut und Böse sitzen in Form kleiner Engel auf meinen Schultern und verleiten mich beide auf ihre eigene Weise.
In dem kleinen gemütlichen Bad ist es mucksmäuschenstill. Nun ja, bis auf das knistern der Tüte zwischen meinen kalten Fingern. Durch die Fenster sehe ich, dass es immer noch regnet. Von den Scheiben gleitet mein Blick hinunter zur Wanne, die sich direkt davor an der Wand befindet. Ich würde gern in heißes Wasser sinken und mal zur Ruhe kommen. Aber das Zittern meiner Beine, macht mir klar, dass wenn ich einmal da drinnen sitze, nicht mehr ohne Hilfe rauskommen werde. Zumindest nicht in diesem Zustand. Ich muss zu Kräften kommen, etwas Essen und diese Krankheit auskurieren, die mir seit Wochen wie ein dunkler Schatten nachhängt. Seit ich damals im Regen über die Wiesen zum Haus gelaufen bin.

Je länger ich mir Zeit lasse, desto banaler werden die Gedanken, die meinen Kopf fluten. Ich reiße die Türe kurzerhand auf und dessen Inhalt fällt klappernd zu Boden. Ächzend beuge ich mich nach vorn und lasse die Tüte beiseite fallen. Die rechteckige, blau weiße Packung auf dem Badevorleger ist ohnehin viel interessanter. Schwach greife ich nach ihr und platziere sie auf meinen nackten Beinen. Der Beipackzettel, den ich aus der Packung fische ist, lang und beidseitig in Schriftgröße fünf bedruckt. Oder mir kommt es nur so vor, aber ich lüge nicht, wenn ich sage, dass die Worte winzig sind. Teilweise verschwimmen sie vor meinen Augen, da mir noch immer schwindelig ist. In den letzten Tagen hätte ich es ruhiger angehen lassen sollen und noch etwas im Bett bleiben. Stattdessen bin ich im Zimmer rumgelaufen und habe es übertrieben. Das ist nun meine Quittung. Der stechende Schmerz hinter meiner Stirn zwingt mich fast in die Knie. Ich bin dankbar, dass ich gerade sitze.

Unschlüssig platziere ich die Packung und den Zettel auf dem Waschtisch, der in greifbarer Reichweite liegt. Das kleine Plastikding, drehe ich zwischen meinen Fingern und ziehe die blaue Kappe vom Ende ab. Zwar steht in der Gebrauchsanweisung das man einen Becher nehmen soll, aber ich habe hier keinen.
Ausatmend streife ich mir meinen Slip ab und versuche an was anders zu denken, als das, was ich gerade tue. Auf ein Stäbchen zu pinkeln ist nämlich gar nicht so einfach.
Nach mehreren Anläufen klappt es. Ich stecke die Kappe zurück auf das Ding, platziere es auf der Packung und gehe anderen Tätigkeiten nach.
Wieder angezogen, klammere ich mich mit den Händen am Waschbecken fest und gebe etwas Seife auf meine Finger. Sie duftet nach Aloe Vera und schickt mich gedanklich nach Frankreich zurück. Die Seife dort, roch genauso.
Aber von der Frau, die ich in Frankreich war, ist nichts übriggeblieben. Die, der ich im Spiegel entgegenschaue, von der ist nichts mehr so wie ich da war. Weiße Tapes kleben über der Wunde an meiner Stirn, Augenringe zieren meine Haut. Ich bin blass und mein Gesicht fahl, als hätte ich einen Geist gesehen. Dabei ist es nur der Schlafmangel und die Einsamkeit, die mich so aussehen lassen. Das Karamell, was sonst in meinen Augen schwimmt, ist einem dreckigen Braun gewichen, das mehr einem leblosen Grau gleicht als dem goldenen Strudel, der einst in ihnen geherrscht hat. Das bin nicht ich.
Das ist nicht Amelia...

Egal wie sehr ich mich zwinge, mich so nicht zu sehen. Der Wahrheit kann ich nicht entkommen. Mit geschlossenen Augen wende ich das Gesicht vom Spiegel ab. Es ist zu schmerzlich, mich länger anzusehen. Das kann ich einfach nicht...
Ich strecke die Hand nach dem Test aus, den ich eben falsch herum neben mich gelegt habe. Drei Minuten sind um, zeigt mir mein neuer Wecker an. Soll ich es wagen?
Vor dem Ergebnis habe ich eine Heidenangst. Egal wie es ausfällt, es wird mich emotional fertig machen. Schwach erinnere ich mich an ein Gespräch mit Timéo, dass ich ganz zu Anfang mit ihm geführt habe. Er erzählte mir, dass er ein Kind gegen meine Freilassung haben wollte. Als Tausch quasi. Nach der Hochzeit haben wir nichts getan, um das zu verhindern. Mir war es völlig entfallen, weil ich ihm gerade erst von dem, was mir in London widerfahren war, erzählte. Wenn das jetzt die Quittung für meine Dummheit ist, dann trifft sie mich volle Bandbreite. Denn das darf einfach nicht sein. Es würde mein jetziges Leben völlig aus den Fugen reisen und die Karten neu mischen. Denn ein Kind im Zeugenschutzprogramm macht alles schwieriger. Das würde Probleme machen. Schreckliche Umstände. Timéo würde sein Kind nie zu Gesicht bekommen und wenn doch, dann nur weil er mich umbringen wollte für das, was ich getan habe. Ich habe ihn hintergangen und für jemanden wie ihn, ist dass das Schlimmste, was ich je hätte tun können. Verrat.
Dabei hatte ich keine Ahnung, das Scotland Yard tatsächlich noch auf der Suche nach mir war. Ich dachte, die hätten sie längst eingestellt...

Mein Herz klopft nervös. Ich will es nicht umdrehen und doch bringt mich die Ungewissheit fast um. Das Gefühl was mich dominiert bringt mich fast um. Es zerreißt mich fast in der Luft, die so mit Spannung gefüllt ist. Gedanklich zähle ich von drei herunter.
Drei. Zwei. Eins.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf den Test in meinen zittrigen Händen. Ich lasse ihn fallen, er kommt klirrend auf dem Boden an. Meine Beine knicken weg, ich falle gleich daneben. Nach Luft ringend schnappe ich mir das Stück Plastik erneut und halte es ins Licht. Mein Herz platzt fast vor lauter Adrenalin, das gerade durch meinen Körper schießt. Tränen fluten meine Augen wie Wasserfälle, und ich kann sie kaum noch zurückhalten. Lediglich mit Timéos Shirt bekleidet kauere ich am Boden vor dem Waschbecken und schlage mir schluchzend die Hände vors Gesicht.
Der Test ist positiv, und mein Leben gerade endgültig aus allen Fugen geraten.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt