AMELIA
Etwas außerhalb von Dublin, in einem Dorf, in dem sich niemand über mein Erscheinen zu wundern scheint, liegt ein großes Grundstück nah an der See. Endlose Wiesen schließen daran an, und nur in der Ferne, ragen die Dächer der großen Stadt empor, die ich seit meiner Ankunft hier nur von weitem gesehen habe.
Die Hütte liegt auf einem hohen Fundament und ist zweistöckig. Von außen mag sie unscheinbar sein, aber von innen modern eingerichtet. Es gibt Kameraüberwachung und automatische Türschlösser. Dazu wurden mir zwei Männer abgestellt, die zu meinem Schutz hier sind. Während ich mir ein Zimmer auf der oberen Etage ausgesucht habe, da man von dort oben einen schönen Blick hat, haben die zwei schweigsamen Männer sich im Erdgeschoss in zwei Zimmern verkrümelt. Ich sehe sie nicht oft. Nur wenn sie ihre Rundgänge machen oder einer von ihnen ins Dorf fährt, um Essen zu holen. Sie sorgen dafür, dass der Kühlschrank stets gut gefüllt ist und es mir an nichts fehlt. Das ist das mindeste, was Scotland Yard hat tun können, nachdem ich quasi rausgeworfen wurde. Mein Bild schmückt nun einen Pass, mit dessen Identität ich mich nicht anfreunden kann. Rachel Cunningham. Es klingt wie eine reiche, blonde Bitch und die soll ich wohl auch verkörpern. Die zwei Security's, sprechen, wenn sie sich überhaupt mit mir unterhalten, mich mit diesem Namen an. Für sie bin ich Rachel. Vermutlich ist das eine Masche, damit ich mich daran gewöhne, aber das werde ich wohl nie.
Auf dem Bett liegt die Mappe mit Informationen über mein neues ich. In den letzten Tagen habe ich ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich will mich nicht mit ihr anfreunden. Ich will nicht Rachel sein, sondern Amelia. Nur Amelia.Angeschlagen lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Zu allem Übel, habe ich mir bei meiner Ankunft von dem nasskalten Wetter eine Erkältung einfangen und vegetiere seit Tagen in diesem Zimmer vor mich hin. Vermutlich ist es Karma, oder ein Fluch, den Napoleon auf mich gehetzt hat. Timéo... ich wünschte ich könnte es ihm erklären, aber ich werde ihn nie wieder sehen. Dem muss ich mir bewusstwerden. Nicht mal meinen Ring durfte ich mitnehmen. Es ist nicht so, als hätte ich an ihm gehangen, aber er hat mich an die Zeit bei ihm erinnert. Dass sie ihn mir in London angenommen haben, nagt noch immer an mir. Ich weiß, dass der Franzose mich hassen muss. Und trotzdem hat es sich angefühlt, als ob der Ring das letzte war, was ich noch von ihm hatte. Jetzt ist es nur noch das Shirt, das ich von ihm trage, aber selbst dass, reicht nicht mehr nach ihm, sondern nach Krankenstation.
Schweratmend ziehe ich die Decke um meine Schultern enger und starre in die Ferne hinaus. Immer wieder zähle ich die vielen rauchenden Schornsteine, im entfernten Dorf. Es bildet einen krassen Kontrast zu den hohen Gebäuden der Stadt. Je länger ich sie betrachte, desto präsenter werden die Bilder von meiner Ankunft, in meinem Kopf.Das laute drehen der Rotoren übertönt das Gespräch, was Samuel neben dem Helikopter mit den zwei schwarz gekleideten Männern führt. Ihre Züge sind streng, und sie mustern mich mit solch einer härte in den Augen, dass ich unterbewusst die Schultern zusammenziehe.
Die Halme der Gräser biegen sich im aufgewirbelten Wind, meine Haare fliegen mir ins Gesicht. Ein Auto wäre viel unauffälliger gewesen, aber stattdessen hat uns ein Helikopter am Flughafen in Dublin in Empfang genommen. Von dort aus sind wir wenige Minuten hinaus aufs Land geflogen. Mit dem Auto vielleicht dreißig Minuten entfernt, in ein kleines Dorf. An dessen Rande, liegt ein einsam stehendes Haus, auf dessen Wiese wir gelandet sind. Mitten in der Prärie. Mitten im nirgendwo.
Skeptisch fahren meine Augen an der baufällig ausschauenden Hütte hinauf. Zwei Stockwerke, mit Holz verkleidete Außenwände und ein mit Schindeln bedecktes Dach. Aus dem Backsteinschornstein raucht es, und vermutlich brennt im inneren ein Kaminfeuer. Hier draußen ist es eisig kalt und nieselt. Niemanden von den Männern scheint es zu stören. Sie unterhalten sich ernst als wäre ich Luft. Ich stehe nur neben ihnen, umschlinge die Mappe, die sie mir beim Abflug in London überreicht haben. Es dauert geschlagene acht Minuten, bis einer der Männer sich endlich an mich wendet. »Willkommen Miss Cunningham. Wir werden mit ihnen in diesem Haus leben«, stellt der eine sich vor und ich schüttle ihm kurz die Hand. Mir gefällt nicht, wie er mich nennt. Rachel Cunnigham... Es fühlt sich schrecklich an, mir vorzustellen, dass ich nun für immer mit diesem furchtbaren Namen angesprochen werde. Ich verabscheue ihn, genauso wie ich die gesamte Situation verabscheue. Nein, das ist nichts für mich. Ich werde es hier niemals aushalten...
»Rachel, lass uns nach innen gehen, ja?«
Es ist Samuels sanfter Druck auf meinen Schultern, der mich aus meiner Starre aufschrecken lässt und meine Füße in Bewegung setzt. Wie mechanisch steuere ich auf die Hütte zu. Einer der Männer vor uns, der andere hinter uns. Durch den Regen laufen wir die matschige Wiese entlang bis auf die geschotterte Einfahrt vor dem Haus. Holzstufen hinauf in einen warmen Flur. Die Tür fällt knarzend hinter uns zu. Ich komme auf einem kartiertem Teppich zum Stehen und blicke skeptisch an mir hinab. Die Schuhe bedeckt voller Schlamm. Ich stecke in Kleidung, die mir nicht gehört. Nichts durfte ich aus meiner Wohnung mitnehmen. Samuel versicherte mir, dass sie hier bereits passende Kleidung für mich haben. Ich hoffe sehr, dass er recht hat. Die Reise hat mich geschlaucht und nach einer Dusche, würde ich mich gern ausruhen. Das Morphin, welches die Ärztin mir verpasst hat, verliert langsam seine Wirkung.»Wir beide schlafen unten, Sie haben ein Zimmer im ersten Stock. Machen Sie es sich gemütlich. Es gibt bald Abendessen«, erzählt einer der Männer mir, dessen Namen sie nie genannt haben. Vermutlich ist das zu meinem Schutz und sie kennen meinen echten Namen auch nicht.
Die Ironie des ganzen ist, dass ich aus dem Flur hinaus, in der Küche tatsächlich einen Kochtopf auf dem Ofen entdecke, auf dem etwas kocht. Es ist so surreal und fast schon utopisch, dass ich einfach so tun soll, als wäre nie was gewesen. Das ich vergessen soll, was geschehen ist. Wo ich war. Was ich erlebt habe. Das ich London vergessen soll, Frankreich, mein gesamtes Leben. Unwohl schlinge ich mir die Arme fester um die Dokumente vor meiner Brust. Je länger ich guter stehe, desto unwohler wird mir. Das scheint auch Samuel zu bemerken, denn seine sanfte Berührung, beruhigt mich etwas.
»Komm«, spricht er mir leise zu, »lass uns nach oben auf dein Zimmer gehen. Dir ist sicher kalt«, schlägt er vor. Dankbar nicke ich und bin noch froher, dass er mich einfach die Treppe nach oben drückt ohne, dass ich großartig etwas tun muss. Ich bin körperlich und mental am Ende. Von der Granatenexplosion tut mir noch immer der gesamte Körper weh und das Wetter hier, tut sein Übriges. Ich bin schrecklich müde, dabei muss es erst kurz nach drei Uhr nachmittags sein. Gähnend halte ich mir eine Hand vor den Mund. Mein ehemaliger Kollege führt mich in ein recht hübsch eingerichtetes Schlafzimmer. Das Bett befindet sich an der Wand gegenüber eines großen Fensters, von dem aus man einen grandiosen Ausblick hat. Über der dicken Federbettdecke liegt eine Auswahl an Stoffdecken. Große Kissen stapeln sich auf der Matratze. Es schaut sehr einladend aus.»Hey«, murmelt Samuel schließlich. Ich weiß, was er mir sagen will. Er muss jetzt gehen. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt bis hierin mitdurfte. Vielleicht war es die Ärztin, die meinen ehemaligen Boss überzeugt hat, ihn mitzulassen.
Sam war immer mein bester Kollege. Er ist witzig, aufgeschlossen und ein hervorragender Detective. Er wird es weit bringen bei Scotland Yard und das macht mich stolz. Er weiß, wie ich über ihn denke. Wir stehen uns gegenüber, blicken einander in die Augen, und es ist nicht annähernd dasselbe wie mit Timéo. Mit ihm ist es anders. Timéo ist einfach unglaublich.
Samuel und ich, stehen uns auf freundschaftlicher Ebene entgegen. Der Franzose und ich hingegen, auf intimer.
»Wenn du mich brauchst, sag den Männern Bescheid. Sie werden mich kontaktieren, aber dass nur im äußersten Notfall, klar?«
Ich nicke mit hängenden Mundwinkeln. Ich will nicht das er geht, aber weiß, dass er es muss. Jede noch so kleine Verbindung zu meinem alten Leben muss getrennt werden. Er ist das letzte, was mir blieb.
»Sam?«, nuschle ich fragend. Der schlanke Brite mit der wuscheligen Haarfrisur, schaut mit einem Lächeln auf mich hinab. »Ja?«
Ausatmend schlinge ich meine Arme um seinen Körper und schließe die Augen.
»Danke für alles.«
»Natürlich kleines, ich wünschte ich hätte mehr für dich tun können...«
Das weiß ich. Samuel hat alles versucht. Noch bevor wir abgeflogen sind, hat er mit unserem Boss gesprochen und versucht sie überzeugen, mich bleiben zu lassen. Er ist gescheitert, aber ich rechne es ihm hoch an, dass er es versucht hat. Das zeugt von echter Freundschaft.
Wir beide sind durch dick und dünn gegangen. Von der Anwärterschule, bis zum Training und hinein in Scotland Yard. Er war immer an meiner Seite und der Abschied hier, fühlt sich bittersüß an. Tränen kullern über meine Wangen, die ich hastig wegwische, bevor ich mich von ihm löse. Samuels Lächeln ist echt. Er zieht mich ein letztes Mal an sich, küsst meine Stirn brüderlich und seufzt. »Das ist kein Abschied für immer Amelia, nur für jetzt. Irgendwann sehen wir uns wieder«, verspricht er mir. Von seinen Worten überzeugt nicke ich, obwohl mein Kopf anderer Meinung ist. Das äußere ich allerdings nicht. Sam entfernt sich von mir, mit ihm die einlullende Wärme, die mich beruhigt hat. Er winkt mir von der Tür aus ein letztes Mal, dann schließt er sie und mit ihm, geht meine Selbstbeherrschung. Ich breche weinend vor dem Bett zusammen und genehmige mir endlich all die Emotionen zu fühlen, die die letzten Tage über in mir gewütet haben.Langsam streiche ich mir eine Träne von der Wange, bevor die bis an mein Kinn kullert. Ein Hustenanfall überkommt mich, und ich stoße mich vom Fensterrahmen ab. Mit wackligen Füßen tapse ich über den warmen Holzboden zurück zum Bett. Ich decke mich wieder zu, vergrabe meine Nase unter der dicken Federbettdecke. In mir ist all die Zuversicht verpufft wie Wasser an einem heißen Sommertag. Während es draußen wie aus Eimern schüttet, liege ich hier und betrachte die Tropfen beim Fallen. Sie erinnern mich an den Fall, der mich eingeholt hat.
Es tut mir so leid, Timéo... Glaub mir. Ich hasse mich jeden Tag dafür. So sehr, dass meine Brust sich schmerzend verkrampft, immer wenn ich an dich denken muss.

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King of Marseille | 18+
Roman d'amour»Ma chérie, komm zu mir kleines. Abhauen kannst du ohnehin nicht.« Als Geschenk für einen Freund, wird die junge Polizistin Amelia nach Frankreich entführt, um dort den Juwelendieb Timéo zu heiraten. Aus dem anfänglichen unbändigen Hass den sie auf...