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AMELIA

An die Albträume, gewöhnt man sich nach einer Zeit. Auch wenn es dumm ist, das zu sagen, aber es stimmt. Ich erwarte es fast, jede Nacht schweißgebadet aufzuwachen, und mich in der Ecke des Kellerraums zu verkriechen, bis ich erschöpft wieder einschlafe und alles von vorn beginnt. Nacht für Nacht. Tag für Tag.
Mein Rücken schmerzt schon, von dem verdammt harten Betonboden. Weder Decke noch Kissen noch eine Matratze habe ich, auf der ich etwas zur Ruhe kommen kann. Nichts dergleichen. Als Toilette muss ich einen Eimer benutzen, den sie jeden Tag leeren.
Ich bin schon eine Ewigkeit hier unter gefangen. Mein Fußgelenk schmerzt wund von der Fessel, die um es gebunden ist und nie abgenommen wird. Das Tageslicht habe ich das letzte Mal vor vielleicht einem Monat gesehen, als die Tür kurz offen war und es durch ein Fester auf der anderen Seite in den Raum gefallen ist. Bis auf dieses kurze Erlebnis, sind die Tage hier unten lang und einsam. Immer zur gleichen Zeit wird mir einmal am Tag essen gebracht. Immer eine Minute, nachdem die Wachen draußen Schichtwechsel machen. Ich höre immer ihre Schuhe den Wänden widerhallen, wenn sie sich ablösen.
Manchmal lausche ich ihren Gesprächen, manchmal mustere ich sie neugierig, wenn sie die Tür öffnen, um mir das kleine Holztablett zu bringen. Diese eine Mahlzeit ist das Highlight meines Tages. So zähle ich auch, wie lang ich schon hier bin. Mit der Zeit habe ich hinter der Tür für jeden verstrichenen Tag, für jede Mahlzeit, einen Strich in die Wand geritzt. Immer wenn ich mit meinen Fingern in der Dunkelheit über die Einkerbungen fahre, erschrecke ich mich jedes Mal erneut darüber, wie viele es sind. Es müssen Monate sein, die ich bereits hier unten verbracht habe. Auch wenn ich mich nicht sehen kann, kann ich fühlen, wie groß mein Bauch inzwischen geworden ist. Als ich herkam, war ich in der dreizehnten Woche und wenn ich mich anhand der Striche nicht verzählt habe, müsste ich nun in der vierundzwanzigsten sein. Wahnsinn.
Kaum zu glauben, dass meine Ankunft schon so lang her ist. Das ist länger als ich bei Sergio und Timéo zusammen war. Unfassbar...

Müde lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Wand neben mir. Der Schichtwechsel der Wachen vor der Tür ist schon längst um, aber bis jetzt hat mir noch niemand mein Essen gebracht. Merkwürdig. Auch meinem kleinen Krümel fällt das auf. Das dumpfe Flattern an meiner Bauchdecke, sind seine Tritte. Mit geschlossenen Augen lasse ich meine Hand auf mein Shirt wandern. Ich weiß Baby, ich weiß...
Ich wünschte ich könnte etwas tun. Aber so gefesselt, habe ich gegen diese kräftigen Männer keine Chance. Sie halten mich gerade so am Leben. Eigentlich sollte ich zunehmen und mindestens drei Mahlzeiten pro Tag zu mir nehmen, um mein Baby ernähren zu können. Es nimmt sich das, was es braucht von mir, aber ich habe nicht viel, was ich ihm geben kann. Der Gedanke, ihm würde was zustoßen, bringt mich tagtäglich um. Das könnte ich mir nie verzeihen.
Früher hätte ich längst einen Fluchtversuch gestartet, auch wenn ich wusste, dass ich keine Chance habe, aber jetzt geht es nicht um mich. Der einzige Grund, wieso ich lebe, ist das kleine Alien. Und ich werde es auf keinen Fall in Gefahr bringen.

Die Entriegelung der Tür, lässt mich hellhörig werden. Ich erwarte bereits mein Abendessen, aber der Mann, der im Schein der grellen Lampen aus dem Flur, in den dunklen Raum tritt, hat kein Tablett bei sich. Stattdessen kommt er auf mich zu und kniet sich hinab. Gleichzeitig betritt ein zweiter den Raum, der mich auf die Beine zieht. Meine Knie sind weich wie Wackelpudding und so gern ich mich aus den Händen dieses bulligen Typens befreien würde, er ist meine einzige Stütze, die mich davor bewahrt den dreckigen Boden zu küssen. Die beiden Männer sind äußerst wortkarg so wie der Rest. Sie wechseln lediglich einige Worte auf Französisch miteinander, bevor die Fußfessel von meinem Fuß fällt und ich überrascht an mir herunterschaue. Was hat das zu bedeuten? Wieso befreien sich mich?
»Was habt ihr mit mir vor?«
Eine Antwort geben sie mir natürlich nicht. Ich weiß nicht mal, ob sie mich verstehen. Dem scheint nicht so. Sie schubsen mich hinaus in den Flur. Unter der grellen Lampe erblinde ich fast, da meine Augen das künstliche Licht nicht gewöhnt sind. Die letzten Monate habe ich zum größten Teil in Dunkelheit gelebt. Jetzt brennen mir die Deckenlampen fast die Netzhaut weg. Einer links und einer rechts, packen Sie meine Arme und führe mich den grellen Gang entlang zu einer Treppe. Ich brauche einen Moment, um wieder klar sehen zu können.
In meinen Ohren rauscht es, weil mir von der ganzen Aktivität schwindelig wird. Wie lang bin ich schon nicht mehr so langgelaufen? Geschweige denn Treppen gestiegen. Keuchend hänge ich in den Armen der Männer, die mich gnadenlos weiterschleppen.

Zum ersten Mal sehe ich das Erdgeschoss des Hauses, in dem ich gefangen. Dekadent ist die Einrichtung nicht sehr, überall stehen protzige Goldfiguren und hängen Gemälde. Einige von denen, habe ich bei Timéo in echt gesehen. Das müssen also Kopien sein. Im Haus spielt Mozart. Die Klänge seiner Symphonien hallen in meinen Ohren wider und beruhigen mein Herz ein wenig, als wir in den nächsten Flur abbiegen und uns plötzlich in einem Esszimmer wiederfinden, in dessen Mitte eine lange, gedeckte Tafel steht. Eine weiße Tischdecke wurde über das Holz geworfen, dessen dunkelbraunen Beine noch hervorschauen. In der Mitte türmt sich Obst und Gemüse kunstvoll auf einem Teller. Weingläser und edle Porzellanteller stehen sich gegenüber. Hinter dem Tisch, vor den Fenstern zeichnet sich eine Stadt ab, die mir schrecklich vertraut vorkommt. Marseille. Ich bin die ganze Zeit über in Frankreich gewesen, in Timéos Nähe, dort wo alles begann und doch so fern. Schluckend lasse ich mich von den beiden Männern auf den Stuhl drücken, der mit dem Gesicht zur Aussicht sitzt. Sie binden meine nackten Füße mit Seilen an den Fußenden des Stuhles fest. Was läuft hier für eine Show?

»Du fragst dich bestimmt, was hier abgeht«, erklingt die kalte Stimme von Timéos Onkel plötzlich hinter mir. Erschrocken wirble ich herum, sehe die beiden schweigsamen Handlanger verschwinden. Sie haben mich mit diesem Monster alleingelassen, was mich hier festhält. Mit trockener Kehle betrachte ich Mathieu. Der grauhaarige Franzose umrundet den Tisch mit langen Schritten. Wie immer, wenn er sich mir zeigt, trägt er ein Hemd und eine feine Anzughose. Das erinnert mich ein wenig an seinen Neffen. Kaum zu glauben, dass die beiden verwandt sind. Wieso hat er nie was von diesem Mathieu erwähnt? Okay, vielleicht kannten wir uns nicht besonders lang, aber ich erinnere mich nicht, diesen Mathieu bei unserer Hochzeit gesehen zu haben. Wenn man den Fakt außeracht lässt, dass er mich entführt hat, haben die beiden anscheinend ein recht angespanntes Verhältnis. Was erhofft Mathieu sich davon, mich hier festzuhalten. Die Kontrolle über Timéo? Über sein Geschäft? Mir erschließt sich das Ziel meiner Entführung nicht für ihn.
»Was tue ich hier oben? Was soll das?«
Mathieu deutet mit einer ausschweifenden Geste auf den vollen Tisch zwischen uns. »Findest du es nicht nett von dir, dass ich dich zum Abendessen einlade?«
Ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst meint.
»Doch, klar. Sehr ... nett
Mathieu sinkt auf den Stuhl mir gegenüber und breitet eine Stoffserviette über seinem Schoß aus. Ich tue es ihm gleich, weil ich nicht weiß, wohin mit meinen nervösen Händen. Mein Magen knurrt hungrig auf und unterbewusst, lege ich eine Hand auf meinen Bauch. »Aber warum geht es hier wirklich?«
»Du scheinst meine Gütigkeit nicht wertzuschätzen. Vielleicht solltest du mir einfach zusehen, wie speise.«
So ein verdammtes Arschloch. Wenn ich könnte, würde ich ihm sein blödes Grinsen aus der Fresse schlagen. Im Gegensatz zu Timéo, erinnert mich Mathieu wirklich an Napoleon. Er ist klein und dick. Immer noch größer als ich, aber das ist auch keine Kunst. Ich bin kaum eins sechzig.

Mathieu schnipst selbstgefällig mit seinem Finger und sogleich kommen zwei gleichgekleidete Damen ins Zimmer. Die eine schiebt einen Teller vor ihn, die andere stellt einen vor mir ab. Sie schenken uns Wein ein. Sogar ein Glas Wasser bekomme ich. Mir erschließt sich nicht, wieso er auf einmal so freundlich zu mir ist.
Skeptisch werfe ich einen Blick auf den vollen Teller vor mir. Ein dampfender Braten mit viel dunkler Soße und Gemüse. Gott, mir läuft das Wasser im Mund zusammen...
Das ist das Beste, was ich in Monaten aufgetischt bekomme, und ich kann es kaum erwarten, zu essen.
»Nur zu«, bekräftigt Mathieu mich, anzufangen. Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen und lange nach dem Besteck. Mit zittrigen Hände schneide ich mir ein Stück Fleisch ab und schiebe es mir gierig in den Mund. Ein seufzen entweicht mir, was ich mir nicht verkneifen kann. Gott schmeckt das himmlisch.
Ich muss mich selbst ermahnen, nicht wie eine Hyäne über das Essen herzufallen. Je mehr ich esse, desto hungriger werde ich plötzlich. Und verdammt, wer das auch immer gekocht hat, verdient einen Award. Und doch traue ich der ganzen Sache noch nicht über den Weg. Was auch immer er noch vorhat, ich werde es gleich herausfinden.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt