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TIMÉO

In einem Moment, in dem ich sicher bin, dass keiner der Wachen draußen zum Haus schaut, renne ich quer über die polierten Fliesen die Treppen nach oben in den ersten Stock. Dicht gefolgt von meiner Unterstützung. Der Flur geht, von der Treppe aus, in beide Seiten ab. Wieder teilen wir uns auf. Ich schicke die vier nach rechts, während ich nach links abbiege. Es mag unklug sein, allein zu gehen, aber mein Gefühl sagt mir, dass es richtig ist. Irgendwas fühlt sich merkwürdig an. Das pfeifen des Windes wird lauter. Ich stoße die erste Tür auf, richte den Lauf meiner Waffe ins Zimmer, doch es ist leer. Auch das nächste und übernächste. Und je näher ich dem letzten komme, desto stärker wird der Wind, der unter der Türschwelle hervor in den Flur peitscht. Fuck. Bis jetzt hat noch keins der anderen Teams die Sichtung meines Onkels gemeldet. Ich werfe einen knappen Blick hinter mich und sehe, dass die Männer gerade in eines der Zimmer auf der anderen Seite stürmen, aus dem sie kurze Zeit später wieder herauskommen. Fuck. Fuck. Fuck.
Jetzt stehe ich hier dem Zimmer gegenüber, in dem er sein muss. Und in dem so ruhigen Haus, höre ich das erste Mal etwas, was mich stutzen lässt, als ich meine Finger nach der Klinke ausstrecke. Es klingt, wie ein angestrengtes Weinen, dass aus dem Zimmer dringt und sich dem lauten Wind beimischt. Und es klingt so gar nicht nach Amelia. Nein ... scheiße.

Ich zögere keine Sekunde mehr und trete in das düstere Zimmer ein. Tatsächlich ist es ein Schlafzimmer. Die Flügeltüren zum französischen Balkon sind geöffnet und die Gardinen wehen im Wind. Mit klopfendem Herzen trete ich tiefer in den Raum. Das Schreien wird intensiver, und das Blut rauscht mir schrecklich laut in den Ohren. Über meinen Rücken rinnt ein eiskalter Schauer. Angespannt sehe ich mich um. Es gibt ein Bad, dessen Tür offensteht. Niemand ist darin. Fuck. Stattdessen mache ich etwas Kleines auf dem großen Bett aus. Mit zittrigen Fingern nähere ich mich, lasse meine Waffe langsam sinken. Mir rutscht sie fast aus den Händen, als ich die Quelle des Schreiens ausmache. Verfickt nochmal, da liegt ein Baby. Mein Baby. Nackt, blutbeschmiert, sich die Seele aus dem Leib schreiend. Einsam. Scheiße. Ich schwinge mir das Sturmgewehr über die Schulter, strecke meine Hände aus, um nach meinem Kind zu greifen, als ein Schmerz in meinem Hinterkopf explodiert und meine Knie nachgeben. Kurzzeitig treten schwarze Punkte vor meine Augen, die drohen mich einzuholen. Dann ist es der Arm um meine Kehle, der mir die Luft zum Atmen abschnürt.

»Dachtest du, so einfach würde es sein, wenn du kommst und mich töten willst?«, schleicht sich die Stimme von Mathieu in meine Ohren. Er spuckt sie mir entgegen, und sein Arm zieht sich fester. Scheiße! Das schreien meines Kindes wird lauter, während ich gegen das rauschen in mir ankämpfe, was versucht Besitz von mir zu ergreifen. Ich schließe meine Augen, dann hole ich aus und Mathieu geht ächzend zu Boden. Bevor ich mich sammeln kann, ist er wieder auf den Beinen und greift mich erneut an, diesmal mit einem Messer. Ich weiche aus, raffe mich auf, kicke ihm die Beine weg. Er packt mich, schlägt mir in die Kniekehle und ich falle. Über den Teppich rollen wir uns durchs Zimmer. Lampen und Deko geht zu Bruch, aber das könnte mich gerade nicht weniger kümmern. Wütend schlage ich auf ihn ein. Der Hass, der sich gerade in mir aufbaut, übersteigt alles, was ich je gefühlt habe. »Was hast du mit ihr gemacht?«, schreie ich ihn an, fange mir eine Faust gegen den Kiefer ein. Blut spuckend schallt mein Kopf zur Seite. Bevor sein Messer mich erreicht, schlage ich es ihm aus den Händen. Es geht klirrend zu Boden und rutscht über das Holz, weit weg von uns. »Was interessiert dich das noch? Du wirst nicht nur sie verlieren, sondern auch erfahren was es heißt, nichts mehr zu haben!«
»Fick dich! Bist du so versessen darauf, dir alles unter den Nagel zu reißen?«
»Du wirst es nie verstehen. Nie!«
»Du hast mich schon immer gehasst, Mathieu. Seit ich dich kenne hasst du mich dafür, dass mein Vater älter ist als du, und du deinen Anspruch auf das Erbe verloren hast. Marseille gehört dir nicht!«

Ich schlage zu. Immer und immer wieder, bis er mich von sich ringt und über mir ist. Seine Fäuste treffen mein Gesicht, bringen meine Nase zum Knacken. Blut schießt mir in den Rachen, und ich muss mich hustend zur Seite drehen, damit es nicht in meine Lungen gelangt. Immer noch brennt sich das Schreien des Babys in meine Ohren, dass da einsam auf dem Bett liegt, dem kalten Windzug ausgesetzt, der durch die offenen Fenster weht. Mathieus Hass geht gnadenlos auf mich hinab und als er glaubt, mich besiegt zu haben, stemmt er sich über mir auf und wischt sich das Blut von den Lippen. »Marseille hat mir immer gehört, so wie dieses Geld, der Respekt, den ich verdiene. Du bist nur ein verwöhnter Rotzlöffel, den ich aus dem Weg räumen muss, um das zu bekommen, was ich will.« Keuchend langt er über mir hinweg, zum Messer. Fuck. Die Sterne, die mir vor den Augen tanzen, und die schwere die sein Gewicht auf meiner Brust sitzend auslöst, erdrücken mich fast. Seine Augen gleiten, so voller Hass und Habgier geplagt, auf das Bett zu. Ein siegessicheres Grinsen macht sich auf seinen Lippen breit. Es ist pervers, wie das eines Psychopathen. »Und jetzt werde ich dir alles nehmen, was ich die letzten Monate bereits von dir ferngehalten habe. Du wirst zusehen, und dann werde ich das gleich mit dir tun.«

Er rafft sich ächzend auf, so geschwächt von meinem Angriff, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Rasselnd drängt sich alle Luft aus meinen Lungen. Ich schließe meine Augen, lasse das Schreien des hilflosen Kindes auf mich wirken. Ein Schmerz macht sich in meinem Herzen breit, den ich noch nie zuvor gespürt habe. Er macht mich lebendig, lässt einen Stoß Adrenalin durch meinen Körper fahren, der mich wachrüttelt. Er wird es nicht bekommen. Kaum fähig zu atmen, taste ich nach meiner Hosentasche und ziehe das Klappmesser heraus, was ich die ganze Zeit dort stecken hatte. Mathieu beugt bereits über seinem Bett, über meinem Kind, eine Situation, die ich ausnutzen muss. Mit dem letzten Stoß Adrenalin, der mein Herz kräftig zum Pumpen bringt, springe ich auf und reiße ihn zurück. Er stößt einen Schrei aus. Das Messer gleitet über seine Kehle wie durch Butter. Sehnen reißen, Blut spritzt, sein Gurgeln ist zu hören, und so verdammt viel Blut, was sich überall verteilt. Er lässt sein Messer fallen, bevor er selbst wie ein Sack Sand zu Boden geht und zappelnd wie ein Fisch, auf dem Teppich langsam sein Bewusstsein verliert. Mit verachtungsvollem Blick starre ich auf ihn hinunter, das Gefühl in mir war nie so gleichgültig und kalt, über einen Menschen, den ich seit meiner Geburt kenne. »Schmor in der Hölle, du ekelhafter Bastard.« Das sind die letzten Worte, die ich ihm sage, bevor er in meinen Schalldämpfer schaut und ich sein Schicksal mit einem Kopfschuss besiegle. Scheiße. Jetzt ist es vorbei.

All die Anspannung fällt von mir ab, als die Glock aus meinen Händen auf den Boden rutscht und die Männer endlich ins Zimmer stürmen, um sicherzugehen, dass er wirklich tot ist. Aber alles um mich verschwimmt, als die präsenteste Stimme in meinem Kopf, die des Bündels ist, was noch immer auf dem Bett schreit. Fuck. Mein Herz schlägt ängstlich auf, so schnell und hektisch wie noch nie in meinem Leben. Wie hypnotisiert klettere ich über den toten Körper hinweg auf das Bett zu. Ich werde meine Handschuhe los, beuge mich über die Matratze und strecke meine Hände nach dem winzigen Ding aus, was so einsam schreit.
Wo zum Teufel steckt Amelia?
»Pscht.« Ich drücke es an mich, merke erst viel zu spät, dass das Handtuch, in das es gewickelt ist, keins ist, sondern mein altes Shirt, was Amelia trug, als ich sie das letzte Mal sah. Und jetzt klebt Blut daran. Ihrs. Hände patschen mein Gesicht, tränen verschmierte Augen starren mir entgegen. Und inmitten von all der Grausamkeit der Welt, bleibt das Universum stehen. Nur für mich. Nur für meinen Sohn, der mich ansieht, wie mich noch nie jemand zuvor so unschuldig angesehen hat, wie er.

»Timéo... Timéo ich bins. Jemand hat Sie gefunden.« Berauscht von der Wärme, die meinen Körper übernommen hat, wende ich mich langsam meinem besten Freund zu, der mich inmitten des Chaos, erleichtert anschaut. Wieder macht mein Herz einen Satz. Diesmal weil all die Erleichterung gleichzeitig von mir abfällt. Mathieu ist tot, mein Baby sicher und Amelia wurde gefunden. Ich muss zu ihr. Jetzt.
»Nimm ihn«, sage ich rasch. Quentin starrt mich entgeistert an, als hätte ich ihm gerade meine absurdeste Idee überhaupt erzählt. Aber ich meine das todernst. »Nimm ihn und bringe ihn in die Villa verdammt. Er braucht einen Arzt«, mache ich ihm klar und schaue das kleine Wesen ein letztes Mal an, bevor ich es ihm vor die Schutzweste drücke. Überfordert schlingt er seine Arme um das kleine blutbeschmierte Kind, dass so fehl am platz bei ihm wirkt.
»Timéo, ich ... ich kann ni-«
»Du musst aber! Okay? Du gehst jetzt hier raus und lässt dich sofort nachhause fahren. Er ist gerade erst geboren. Tue es für mich, Quentin. Bitte.« Ich habe ihn all die Jahre, noch nie anflehen müssen. Doch jetzt ist der Schmerz in mir so groß, dass ich vor ihm auf die Knie fallen würde, wenn ich müsste. »Ich vertraue niemandem so sehr wie dir, Quen.«

Ich sehe, wie alle möglichen Emotionen über sein Gesicht huschen wie einen Film. Schließlich knickt er ein und nickt still. Dankend schlage ich meine Hände zusammen, bevor ich an ihm vorbei in den Flur rausche und die Treppen nach unten renne. In einem affenzahn schieße ich um die Kurve herum in Richtung des Kellerabgangs, gerade, als ich in den nächsten Flur biege, erkenne ich einen der Männer mit einer leblosen, nackten Frau im Arm. Amelia. Ihre Körper blutbeschmiert, ihr Gesicht zugerichtet. »Ich nehme sie!« Hektisch nehme ich sie ihm ab, und kehre zurück zur Haustür um. So schnell ich kann, laufe ich auf die Wagen zu, die in dem inzwischen geöffneten Tor parken. Eines der Teams, hat alle Wachleute gefesselt auf den Boden knien lassen. Sie werden sie freilassen, sobald wir weg sind. Einer hält mir die Tür auf, ich rutsche mit ihr auf den Rücksitz. Schon drehen sich die Räder und ich kann endlich aufatmen. Sie ist hier, in Sicherheit. Und auch, wenn sie reglos in meinen Armen wie ein Schluck Wasser hängt, spüre ich den zarten Puls, der an ihrem Hals pocht. Eine Flut von Erleichterung überkommt mich. Und zum ersten Mal, sind es Tränen die meine Wangen nässen, als ich sie fest an mich drücke. Bete, zu dem Gott, dem ich nie groß Beachtung geschenkt habe. Wenn es einen Wunsch im Leben ist, den ich äußern darf, dann ist es, sie zu retten.
Komm schon, ma chérie. Verlass mich nicht. Deine trügerisch kalte Haut will mich in die Irre führen, aber ich weiß, dass eine Kämpferin in dir steckt.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt