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TIMÉO

Der Schlafentzug macht mich fertig. Meine Augen sind staubtrocken und brennen. Zwar habe ich mir das Blut vom Körper geschrubbt und mir neue Kleidung angezogen, aber das schwere Gefühl in meinem Herzen konnte ich mir nicht abwaschen. Es ist geblieben und wird so schnell auch nicht verschwinden.
Als ich das Zimmer in dem Amelia liegt, verlasse, fällt mir dem Schließen der Tür, eine erste Last von mir ab. Zu wissen, dass es okay ist, dass Sie okay ist, gibt mir neue Kraft. Denn gerade bin ich der Einzige, der für das Kind da ist, was ich seit dem kurzen Moment im Haus von meinem Onkel, nicht mehr zu Gesicht bekommen habe.
Ein paar Zimmer weiter, schließe ich die Tür hinter mir und lasse meine Augen über die Schwestern und die Ärztin streifen, die koordiniert herumwuseln und sich gegenseitig Utensilien reichen. Ich will sie nicht stören, aber das kräftige Schreien aus dem Bett, um das sie sich versammelt haben, bricht mir mein steinernes Herz in kleine Teile.

»Monsieur Moreau, kommen Sie doch näher.« Die Ärztin schenkt mir ein erfreutes Lächeln, als sie aufsieht und mich erblickt. Sie scheint zufrieden zu sein. Das ist gut ... oder?
Nur schleppend nähere ich mich den Frauen, sie machen mir Platz, während sie noch immer versuchen zu arbeiten. Die Ärztin tritt neben mich an das Bett, die behandschuhte Hand nach ihm ausgesteckt. Er liegt da, nackt auf einem Handtuch und schreit. Auf seinem Kopf sitzt eine blaue Mütze. Ihm ist kalt verdammt, obwohl es hier drinnen sehr warm ist.
»Fast vier Kilo und fünfzig Zentimeter. Er hat eine Infusion bekommen, da ihm Nährstoffe fehlen, das sollte schnell ausgeglichen sein. Er ist ein zarter kleiner Junge, aber stark.«
Ihre Worte dringen in meine Ohren, aber wollen so recht nicht in meinem Hirn ankommen. Zappelnd liegt das kleine Wesen vor mir, den Mund weit aufgerissen und Tränen in den Augen. Ich will es am liebsten greifen und nie wieder loslassen. Und die andere Seite in mir, ist schrecklich überfordert. Was soll ich tun?
»Ist ihm kalt?«
»Er liegt unter einer Wärmelampe und das Bett ist beheizt. Er weint, weil er zu seiner Mama will. Er ist überreizt. Immerhin ist er gerade erst geboren. Ich schätze ihn vielleicht fünf Stunden alt.«
»Aber er ist gesund? Ihm fehlt sicher nichts? Er lag einfach auf dem Bett und die Nabelschnur-«
»Ja, wir haben sie überprüft, abgeklemmt und gereinigt. Aber ihm scheint es gut zu gehen. In den nächsten Tagen werde ich ihn engmaschig überwachen. Er ist hier so gut versorgt wie auf einer Intensivstation, Monsieur Moreau«, versichert sie mir. Ihre Worte bringen mein Herz etwas zur Besinnung. Ihm geht's gut.
Eine der Schwestern wickelt ihn in eine Babydecke ein.
»Wollen Sie ihn nehmen? Er braucht das jetzt.«

Kopfschüttelnd trete ich einen Schritt zurück.
Das ... ich kann nicht. Ich kann ihn nicht nehmen, wissend das Amelia, dass sie ...
Mir bleiben die Worte im Mund stecken. Er ist so trocken wie die Sahara und ich fühle mich unglaublich hilflos. Allein.
»Nur zu, bringen Sie ihn zu ihrer Frau. Es ist sehr wichtig für Babys, dass sie den Kontakt zu ihren Eltern haben«, ermutigt die schwarzhaarige Ärztin mich. Sie hebt ihn aus seinem Bettchen und kommt auf mich zu. Nein. Jede Faser in meinem Körper sträubt sich davor ihn zu nehmen. Er schreit und windet sich, doch die Ärztin lässt nicht locker und drückt ihn mir an die Brust. Auf der einen Seite bin ich dankbar, auf der anderen, weiß ich nicht wohin mit meinen Gefühlen. Ich schließe meine Armen um das Baby, was so schrecklich klein in meinen großen Armen wirkt. Es strampelt immer wieder die Decke von sich, seine Füße schauen hinaus. Eine der Schwestern lacht und legt noch eine weitere Decke um ihn, und richtet ihm die Mütze.
»Nehmen Sie ihn mit, ich werde gleich nachkommen«, versichert sie mir. Auch wenn ich mich keinen Millimeter bewegen will, machen sich meine Füße selbstständig und laufen langsam auf das Zimmer zu, in dem Amelia liegt. Im Türrahmen kommt mir Quentin entgegen, der mir ein schwaches Lächeln zuwirft. »Ist sie-«
»Nein. Sie schläft. Der Doc meint ich soll mich ausruhen und später wiederkommen.«
Quentin klopft mir im Vorbeigehen auf die Schultern. Ich bin ihm dankbar für das, was er für sie tut. Ich weiß, dass er sie nie sonderlich leiden konnte. Das zeigt, wie selbstlos er ist.

Ich sinke auf den Stuhl, der neben Amelias Bett steht und presse das kleine Menschlein enger an mich. Sein Kopf ruht auf meiner Brust, und das Schreien hat längst aufgehört. Mit geschlossenen Augen schlummert er genau über meinem Herzen und ich kann nicht aufhören ihn anzusehen. Er ist so winzig und die Ähnlichkeit, die wir haben ist verblüffend.
Kaum zu glauben, dass er mein ist.

~

Quentin steht einige Stunden später an der Seite von Amelias Bett und schaut auf sie hinab.
»Sie schläft jetzt schon mehr als einen ganzen Tag.«
»Mhm, der Doc meinte das ist gut. Er hat die Schmerzmittel langsam runtergeschraubt. Sie sollte also bald aufwachen. Danke, dass ...«
Ich halte inne und sehe meinen besten Freund an. Zwischen uns das Bett, in dem meine Frau liegt.
»Danke, dass du-«
»Klar. Halb so wild. Ich muss zwar die nächsten Tage etwas auf Alkohol verzichten bis ich wieder genug Blut in mir hab, aber das werde ich schon aushalten«, scherzt er. »Für dich würde ich mich auch aussaugen lassen wie ein Vampir.«
Ein schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen. Es ist das erste in Monaten. Und ich bin froh, dass auch Quentin wieder gut drauf ist.
»Hast du schon, was aus der Stadt gehört?«
Ich schüttle ernst meinen Kopf und wende mein Gesicht dem kleinen Bettchen zu, was vor Amelias steht. »Es wird keine Ermittlungen geben, meinte der Polizeichef. Sie denken es ist ein wütender Bürger gewesen, weil Mathieu die ganze Stadt mit Drogen gefüttert hat. Das kommt nicht gut an.«
Außerdem haben wir genug Beweise verstreut, die die Spur von uns weg auf seine schmutzigen Geschäfte leiten. Quentin weiß das. Es fühlt sich gut an, dass dieser Jahre andauernde Zwist nun endlich vorüber ist. Die Dinge die Mathieu uns angetan hat werde ich ihm nie verzeihen können. Jetzt ist er tot und ich frei. Frei von seinen Spielchen. Von seinen Intrigen und Märchen. Marseille gehört endlich mir und ich kann den Ort zu etwas machen, dass ich schon immer wollte. Niemand wird mir mehr in die Quere kommen.

»Mhm.« Meine Kopf schnippt erschrocken zum Bett zurück. Zarte Furchen haben sich auf der Stirn der Blonden gebildet, die Brauen hat sie zusammengezogen. »Amelia«, stoße ich überrascht aus und hebe meine Hand zu ihren Haaren. »Du bist wach.«
Schwer blinzelnd, huschen ihre trägen Augen über sich, die Laken, meinen Arm hinauf zu meinem Gesicht. »Wo ... wo bin ich?«
Krächzend klingen die Worte, die sie kaum hervorbringt. Schwach und ausgelaugt. Ihre Augenringe tief und die Haut, an den Stellen, die nicht bunt leuchten, blass.
»In der Villa, ma chérie.«
Angestrengt drückt sie die Luft aus ihren Lungen, ihr fallen die Augen fast zu. »Wo ... wer ...«
Ihre Worte klingen wirr, fast zusammenhanglos. Sie will so viel sagen doch weiß nicht, wo sie beginnen soll. Behutsam platziere ich meine flache Hand auf ihrer Stirn und errege so ihre Aufmerksamkeit zurück. Ihre sonst so warmen Iriden, sind ergraut. In ihnen schwingt so viel Angst und Trauma mit, dass es mir das Herz zerbricht. »Ruh dich aus, ja? Ich erklär es dir später«, versichere ich ihr. Sie soll keine Angst haben. Sie ist in Sicherheit.
Vor lauter Schmerzen verzieht sie ihr Gesicht, nickt aber sanft. Ihr Kopf fällt zur Seite, und ihre Augen öffnen sich erstaunt weit, als sie Quentin auf der anderen Seite von ihr entdeckt.
»Na kleine Britin? Überrascht mich zu sehen?«
»Danke«, nuschelt sie halb schlafend. Quen sieht mich verwirrt an, und ich zucke auch mit den Schultern. Keine Ahnung, für was sie ihm dankt, aber das zarte Lächeln auf ihren Lippen, weicht nicht mehr von ihr, als sie zurück ins Land der Träume gleitet.

King of Marseille | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt