AMELIA
Ich dachte wirklich, Timéo wären meine Schreie nicht entgangen an dem Abend, an dem ich mir die Seele aus dem Leib geschrien habe. Doch leider hat es nichts gebracht. Mathieu ist danach tatsächlich hierhergekommen, und hat mich verprügelt. Ich konnte wochenlang nicht richtig kauen, atmen oder sitzen, weil mir alles wehgetan hat. Mein Gesicht hat sicher in den buntesten Tönen geleuchtet, hätte ich mich selbst ansehen können. Das Baby war einige Tage danach sehr ruhig und ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Und als ich seine zarten Tritte endlich wieder spürte, weinte ich vor Glück.
Dann weinte ich nochmal, weil mir das mit Timéo so schrecklich leidtut. Als wir auf der Yacht waren, hatte ich das Gefühl wir würden uns verstehen. Er war für mich da als ich ihm mein dunkelstes Geheimnis anvertraute. Dann mussten meine ehemaligen Kollegen mich unbedingt befreien und nun denkt er, ich habe ihn hintergangen. Dabei habe ich nie ein Wort über ihn verloren, auf der Polizeiwache. Ich hätte ihn verraten können, Dinge über ihn preisgeben, die ihn für alle Zeit der Welt hinter Gitter gebracht hätten. Aber ich habe es nicht. Weder über ihn noch über James oder Sawyer, dabei stehen die beiden noch immer ganz oben auf meiner imaginären Abschussliste. Aber das ist alles völlig egal, weil ich nicht mehr bei Scotland Yard arbeite. Alles für das ich die letzten Jahre gekämpft habe, wurde in die Tonne geschmissen. Jetzt sitze ich in diesem Loch, kurz vorm Verhungern und versuche ein Kind zu ernähren, dass mich mehr Kraft kostet als ich aufbringen kann.Erschöpft sinke ich auf den Boden und halte mir meinen Bauch. Ich bin froh, noch immer Timéos Shirt zu tragen. Das Einzige, was mir vermutlich jetzt noch passen würde, hätte ich eine Auswahl. Mein Bauch ist inzwischen so groß geworden, dass ich es kaum noch ertrage den Hosenbund über ihn zu ziehen. Jede Bewegung fühlt sich falsch an, jeder Schritt zu viel. Vom Hunger mal abzusehen. Ich würde am liebsten Schokolade essen, oder Chips. Oder fettige Pizza. Ja, das wäre traumhaft schön. Gähnend ziehe ich meine Beine an und platziere auch meine zweite Hand auf meinem Bauch. Die Schüssel, die vor einer Weile zum Abendessen kam, habe ich herumgedreht und meinen Kopf daraufgelegt. Es ist unbequem, aber besser als nichts. Man muss sich nur zu helfen wissen. In den letzten fast neun Monaten ist mir das klar geworden. Es sieht nicht so aus, als ob Timéo noch kommen wird, also muss ich das selbst in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass wir hier rauskommen. Ich hoffe, dass das Baby noch etwas in mir bleibt. Nach meiner Rechnung müsst ich bereits fast so weit sein. Das macht mich schrecklich nervös und ängstlich. Jedes Mal, wenn Mathieu vorbeikommt, macht er mir klar, was geschehen wird, sobald es auf der Welt ist. Davor habe ich eine Heidenangst. Er darf mir mein Kind nicht wegnehmen... und doch wird er es tun. Deswegen bete ich täglich, dass es noch in mir bleibt, auch wenn das mit jedem voranschreitenden Tag schwieriger wird.
Schluckend starre ich in die Dunkelheit, die den Rest des Raumes verschluckt. Meine Finger kreisen sanft über den Stoff des Shirts, und die gleichmäßigen Bewegungen machen mich müde. Ich kann kaum noch die Augen offenhalten.Den ganzen Tag allein zu sein, und das über Monate hinweg, hat mich anfangen lassen, Gestalten zu sehen und Stimmen zu hören. In meinen Albträumen sucht Sergio mich noch immer heim, und ich glaube nicht, dass sich das je ändern wird. Nein, das wird es nicht.
»Alles okay da drinnen?«, frage ich wispernd und tippe meine Bauchdecke an. Ein zaghafter Tritt, trifft meine Handfläche. Normalerweise ist es stärker, aber vermutlich kann es auch nicht mehr. So wie ich. Ich hoffe ihm geht's gut da drinnen. Zugern wüsste ich, was es wird. Ein Mädchen? Wird sie so aussehen wie ich? Oder ein Junge, der Timéo wie aus dem Gesicht geschnitten ist?
Nicht mehr lang und dann werde ich es wissen. Ich kann es kaum abwarten.
»Hör nicht auf kleiner Krümel«, bitte ich. Seine Bewegungen zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wieder ein Tritt, und noch einer. Du bist das Einzige, was mich davon abhält, irre zu werden. Mama wird nicht zulassen, dass sie dich mir nehmen.
Ich habe mir schon etwas überlegt, um das zu verhindern. Nie im Leben werde ich mich einfach ergeben und ihnen mein Kind überlassen. Nie im Leben. Nicht jetzt und nicht in zehn anderen. Ich hätte nicht gedacht, mal so über etwas sprechen zu können. Doch jetzt, wo ich es in mir spüre, ist es anders. Ich kann die Liebe, die ich dieses kleine Menschlein empfinde, kaum in Worte fassen. Umso mehr tut es weh, dass allein erleben zu müssen.

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King of Marseille | 18+
Romansa»Ma chérie, komm zu mir kleines. Abhauen kannst du ohnehin nicht.« Als Geschenk für einen Freund, wird die junge Polizistin Amelia nach Frankreich entführt, um dort den Juwelendieb Timéo zu heiraten. Aus dem anfänglichen unbändigen Hass den sie auf...