ERASE YOU | 18 +

KAPITEL 60

HUNTER

Nachdenklich tippe ich mit dem Kugelschreiber gegen meine Schneidezähne und gehe die Melodie Stück für Stück durch. Murrend reibe ich mir über die Augen, weil mir keine Lösung für die zu füllende Stelle einfällt. Schnaubend klappe ich das Notizbuch zu, schiebe es auf die freie Bettseite und runzle die Stirn. Die Nacht hat von der Stadt Besitz ergriffen und es ist merkwürdig, dass Xyla nicht neben mir liegt. In den letzten Monaten war sie immer da. Jede Nacht hat sie neben mir gelegen, ganz gleich, ob wir bei ihr waren oder in meinem Elternhaus. Sie jetzt nicht hierzuhaben, fühlt sich falsch an.

Ich höre das Lachen von Ava aus dem Wohnzimmer und greife nach meinem Handy. Ein Video von Hudson ist eingegangen. Er schreit johlend in die Kamera, ehe er das Gerät über die Menschenmenge gleiten lässt. In der Mitte von einem Kreis aus seinen Freunden, meinen Geschwistern und einigen Bekannten tanzt Xyla mit Mia und Hana. Sie hat einen Drink in der Hand und ihre blonden Haare fliegen wirbelnd durch die Luft. Schweiß glänzt auf ihrem Dekolleté und Hudson lacht in die Kamera, ehe das Video endet. Seufzend gehe ich die nächsten Nachrichten durch, bis mir eine von Xyla ins Auge fällt.

Ein Bild von ihrem Hals, unterstrichen durch ihre hervorquellenden Brüste und ihre Lippen, während ihr Mittelfinger mit der Kette spielt, die um ihren Hals klimpert. Ich räuspere mich, als mein Schwanz zuckt, und konzentriere mich auf den Text, den sie angehängt hat.

Deine Hand ist die einzige Kette, die ich um meinen Hals spüren will. Komm zu mir und zeig mir, wem ich gehöre, Hunt.

Hitze wabert durch meinen Körper und ich schlucke. Immer wieder überfliegen meine Augen die Zeilen, dann stemme ich mich endlich vom Bett. Ich scanne das Zimmer, aber meine Krücken sind spurlos verschwunden. Sicherlich hat Kegan sie weggeschafft. Der verfluchte Sadist.

»Harrison!«, brülle ich in den Flur. Mein Bruder flucht und etwas fällt polternd zu Boden. Hoffentlich nicht Ava.

»Was?« Er erscheint mit verärgerter Mimik im Türrahmen zur Küche und sieht mich an. Meine Hand umklammert den Türstock, weil ich verfluchte Panik habe, einen Schritt ohne Unterstützung zu machen. Mir ist längst klar, dass ich die Krücken nicht mehr benötige, aber es fällt mir schwer, meinen Körper davon zu überzeugen. Ich bin wackelig und fühle mich wie Pudding.

»Du musst mich in die Stadt fahren«, lasse ich ihn wissen.

»Jetzt?«, fragt er verdattert und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist halb eins, Hunter.«

»Jetzt, Harrison. Los. Hol deine Autoschlüssel und gib Ava einen Abschiedskuss«, murre ich. Mein Kiefer knackt, weil ich die Zähne zusammenbeiße und mich in Richtung Eingangsbereich bewege. Harrison seufzt resigniert, ehe er ins Wohnzimmer trottet.

Eine halbe Stunde später parkt er den Wagen vor dem Haupteingang des Clubs. Mit gefurchter Stirn mustert er mich. »Kriegst du das hin?«

»Danke fürs Fahren«, weiche ich seiner Frage aus und kämpfe mich aus dem Wagen. Harrison sieht mir prüfend nach, bis ich am Türsteher vorbei bin und im Club verschwinde. Die Bässe wummern, die Gäste grölen, lachen oder singen die Songs mit. Unzählige knappe Röcke und Kleider schwingen um mich herum, während ich nach dem Weg suche, den der Türsteher mir beschrieben hat. Natürlich hat Hudson die teuerste VIP-Lounge der Stadt gemietet. Er hat eben vom Besten gelernt, wenn es ums Party machen geht. Und der Beste ist eindeutig Howard. Irgendwer kreischt lauthals und ruft Xylas Namen. Ich folge der ausgestreckten Hand und entdecke sie. Oberhalb der Tanzfläche ist eine Art Balkon angebracht, auf dem sie steht und mit Hana die Hüften im Takt der Musik schwingt. Hudson lehnt an einer Säule und tippt auf seinem Handy herum.