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„Du wurdest entlassen", stellte ich fest.

Er hatte mehrere Jahre im Knast gesessen, was ich vor drei Jahren erst erfahren hatte.

„Ja, nachdem sich niemand von euch darum geschert hat. Habt mich wohl vergessen oder was?"

Um ehrlich zu sein, hatte ich das, aber das brauchte er ja nicht zu wissen. „Unser Leben ist weitergegangen. Wir wollten über Dads Tod hinwegkommen, wir hatten auch keine leichte Zeit."

Ich dachte an die Wochen nach seinem Tod, in denen ich mich durch das Footballspielen versucht hatte, abzulenken. Aber die Abendessen waren schrecklich gewesen, still und traurig.

„Keine leichte Zeit? Ich saß im Knast! Hört sich das an wie eine leichte Zeit? Niemand, niemand von euch ist einmal zu Besuch gekommen! Keiner wollte wissen, wie es mir geht, habe ich recht? Habe ich recht? Geht man so mit seiner Familie um, ja? Euer Leben ist weitergegangen! Was für eine gute Nachricht! Es scheint mir, als hätte man das Kapitel abgeschlossen? Und mich gleich mit?"

Der Kerl lehnte sich wütend nach vorne und ich wich zurück. Knackis sind bestens durchtrainiert.

„Meine Mom hatte zwei Kinder plötzlich alleine großzuziehen. Was ist falsch daran, mit diesen Kindern nicht regelmäßig in ein Gefängnis zu gehen um einen wütenden Mann zu besuchen, der sie nur an den Tod ihres Vaters erinnern würde? Sie wollte einfach wieder Normalität für uns schaffen!"

Er machte mich wütend mit seinen idiotischen Anschuldigungen.

Er lachte. „Ach so ist das? Ich bin also der böse Mann in der Familie? Der böse Mann, der dich und deine Schwester liebte wie ein Onkel? Der deinen Vater liebte wie einen Bruder? Ich habe also einen Fehler, einen einzigen Fehler machen müssen um das alles zu zerstören? Das enttäuscht mich. Ich bin wirklich gekränkt, Elijah."

Dieser Scheißkerl, dachte ich mir. Behauptete uns geliebt zu haben und hatte jetzt nichts Besseres zu tun als mich anzuscheißen.

„Ich war sieben, als du in den Knast gewandert bist! Sieben! Ich wusste doch gar nicht was geschieht! Du warst von einem auf den anderen Tag einfach weg und meine Mom sagte mir, es ist besser so. Ich habe ihr einfach geglaubt." Ich biss die Zähne zusammen. „Ja und vielleicht habe ich dich sogar über all die Jahre vergessen, Gale."

Das hatte gesessen, er trat wütend einen Schritt zurück. „Ich bin nach Beaver Dam gekommen um euch wiederzusehen, habe gehofft, dass ihr mich wieder aufnehmt. Stattdessen finde ich das Haus, das David so geliebt hat, unbelebt und scheiße leer vor. Habt ihr all seine Sachen verkauft, ja? Habt ihr einfach alles weggeschmissen, was euch an ihn erinnert hat? Wow."

Er trat gegen den Einkaufswagen, der sich schmerzhaft in meinen Bauch schob. „Sieht so aus, als hätte ich mich in der Adresse geirrt. Hier ist nämlich nicht die Familie, die ich gesucht habe."

Dann drehte er sich um und lief wütend aus dem Supermarkt.

Austin, der die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, ließ laut die Luft raus, die er offenbar angehalten hatte. „Ich hatte echt Angst er schlägt dich", sagte er schließlich.

Ich schüttelte den Kopf und fluchte: „Das war eine komplett beschissene Nummer! Was erlaubt sich dieses Arschloch? Macht uns zum Sündenbock für alles und nennt uns herzlos! Und er steht hier und beschimpft den Sohn seines geliebten Cousins!"

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Verbrecher in der Familie hast. Das ist ganz schön gruselig." Ich glaubte ihn erschaudern zu sehen.

„Es ist nicht so wie du denkst", beruhigte ich ihn und schob den Einkaufswagen weiter Richtung Kasse. „Gale ist wegen Körperverletzung eingebuchtet worden, aber er war bei seiner Tat ziemlich betrunken. Es war kurz nach dem Tod meines Vaters und er wollte seine Trauer mit Alkohol wegspülen. Davor war er wirklich ein liebenswerter Kerl."

„Oh", machte Austin. „Vielleicht solltest du deine Mutter warnen."

Das tat ich nicht, sie sollte alleine mit ihm fertig werden.

Zu Hause packte ich den Einkauf aus, zog mir Jogginghose und T-Shirt an und joggte zur Beaver Dam High School. Es war alles noch so vertraut, so als wäre ich erst gestern noch hier zur Schule gegangen.

Aber es war so viel passiert in letzter Zeit. Ich lehnte mich auf ein Geländer beim Footballplatz und starrte auf das Feld, das so einfach wirkte ohne Türme, Kameras und Bildschirme. So vertraut und verständnisvoll. Hier, auf diesem Feld hatte ich mit dem Footballspielen angefangen.

Ich dachte an Gale und wurde wieder wütend. Wie konnte er glauben, dass wir Dad vergessen wollten? Ich hatte ein Jahr lang um ihn getrauert, hatte mir Sachen von ihm in mein Zimmer geholt um sie immer wieder in die Hand zu nehmen.

Ich wollte ihn nie vergessen, denn ich wollte so sein wie er. Doch inzwischen konnte ich das nicht mehr. Ich war nicht wie Dad, ganz sicher nicht.

Als ich zurückkam, wartete Gale auf der Treppe vor der Haustür.

„Ich habe im Moment echt genug Probleme", sagte ich kühl. Er sollte wissen, dass er nicht willkommen war.

Gale hob die Hand. „Sorry. Hey ich wollte mich entschuldigen. Es war nicht cool von mir dich anzuschreien. Das kam nur alles auf einmal so hoch. Lass mich nochmal anfangen."

Ich überlegte, ob ich ihm weiter zuhören wollte. „Ich glaube nicht, dass ich den Film nochmal überspielen kann."

Er musterte mich intensiv, so wie es Erwachsene immer machen, wenn sie den Nachwuchs länger nicht gesehen haben.

„Du bist echt groß geworden. Ein junger Mann. Ich muss ganz schön viel verpasst haben. Ich will dich kennenlernen, Elijah. Ich muss wissen, was aus dem kleinen Fratz geworden ist, mit dem ich stundenlang Football spielen musste."

Er lächelte doch tatsächlich. Sein Lächeln ähnelte dem meines Vaters. „Charlene wollte nicht viel über dich erzählen. Sie sagt, ich soll selber mit dir reden."

„Ich will aber nicht mit dir reden", erwiderte ich. Ich meinte, dass er es nicht verdiente.

Aber Gale ließ nicht locker. Er klingelte auch die nächsten Tage an meiner Tür. Ich wies ihn weiterhin ab.

Dreamboy (#deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt