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Für mich gibt es keinen schöneren Ort auf dieser Welt, keinen ehrlicheren, keinen Ort, der so viel Vielfalt erlaubt.

„Weißt du noch?", fragte Jeffrey, als wir in einem gelben Taxi die Straßen der Metropole entlangfuhren, „das erste Mal als wir zusammen hier waren?"

„Es lag Schnee, überall waren Lichter, es war der perfekte Winter.", erinnerte ich mich. Da hatte ich mich in diese Stadt verliebt.

„Wir waren jeden Abend woanders", ergänzte er, seine Hand wanderte zu meiner, „wir haben uns nie losgelassen." Unsere Gesichter waren sich plötzlich sehr nah.

„Wir müssen hier aussteigen." Ich lehnte mich zurück und öffnete die Tür. Auf dem Gehweg wartete Jesse. Seine hell gebleichten Haare trug er modisch geschnitten und seine Augen waren schwarz umrandet. Er strahlte, hob glücklich die Arme mit dem klimpernden Armreifen als das Taxi vor ihm hielt. Er trug eine enge Lederhose und mit Glitzersteinchen besetzte Boots mit leichtem Absatz.

Sobald er mich in die Arme nahm und mir einen Kuss auf die Nasenspitze drückte, war ich der Austin, der nicht aufhören konnte zu lächeln, denn das machte Jesse mit mir. Wir sind seelenverwandt. Jesse schämt sich nicht für seine Persönlichkeit, für seine Ausgefallenheit, im Gegenteil, er liebt es, wenn die Leute ihn bemerken.

„Ich habe dich so vermisst, Darling!", rief er und begrüßte mich ein zweites Mal mit französischen Küsschen. Wir hatten sie zu unserem Ritual gemacht. Jesse lebte wie ein echter New Yorker, so wie er es immer mit leuchtenden Augen beschrieben hatte, in seinen Vorstellungen. Er führte uns stolz in seinem Viertel herum, zeigte uns das kleine Restaurant in dem er kellnerte, die Boutiquen in denen er shoppte, die Bars in denen er seine Freunde traf. Er zeigte den Park, in dem er ausspannte und die Clubs, in denen er tanzte.

Es ist seine kleine Welt, eine Leben für das sein Herz zu schlagen scheint. Er liebt die Stadt, sein kleines Appartement und die scheinbare Endlosigkeit der Gebäude um ihn herum. Sein Leben ist aufregend, wild und manchmal unanständig und er ist glücklich. Denn er kann er selbst sein. „Ich verdiene jeden Tag meine wenigen Brötchen und dann gebe ich alles gleich beim Shoppen aus", lachte er sorglos. „Und jetzt gehen wir zurück zu meinem Appartement und setzen uns aufs Dach. Das ist der schönste Platz auf Erden!" Er hakte sich bei mir unter.

„Du bist wie ein Wirbelwind, der all meine Sorgen wegwirbelt", erwiderte ich glücklich und stellte fest, dass ich ihn unglaublich vermisst hatte. „Ich bin ohne dich total eingegangen."

Das war ich wirklich. Nachdem Jesse das College verlassen hatte, war ein Teil von mir mit ihm gegangen. Ohne ihn fühlte ich mich allein und auf eine unangenehme Weise bloßgestellt. Jesse war ein kleines Universum für mich, wo nichts was ich tat oder sagte peinlich oder unangebracht war. Wir konnten stundenlang reden über Dinge, die nur wir verstanden. Er nahm mich ernst, er fing mich auf, ohne Vorurteile zu haben.

Jesse führte uns nach ganz oben auf das Dach seines Apartments. Um uns herum ragten New Yorks Riesen in die Höhe und glänzten in der Sonne wie Diamanten.

Wir drehten uns im Kreis, bis die Wolkenkratzer verschwammen und alles zu einem funkelnden Eintopf wurde. „Was machen wir aus unserem Leben, Schatzi?", fragte er, nachdem wir uns schwankend auf den Boden gesetzt hatten. Schwankend, aber glücklich. „Wirst du der Liebe folgen oder dem Leben?"

Ich schloss die Augen und lauschte dem Lärm der Großstadt, der so voller Leben klang, dann sagte ich: „Ich lasse es auf mich zukommen."

„Paris, Baby!", rief Jesse und zog mich wieder auf die Beine, „du hast es mir versprochen, weißt du noch?"

„Natürlich", antwortete ich und lächelte. Jesse drehte seine Musik auf und bewegte uns zum Tanzen. Wir tanzten auf dem Dach und fühlten uns vollkommen.

Doch in dieser Nacht hörte ich Jeffrey das erste Mal weinen. Sein Schluchzen war dumpf, erstickt durch das Kopfkissen. Wie erstarrt lauschte ich seinem Kummer, bis er verstummte. Auch in den folgenden Nächten weinte Jeffrey. Ich wollte ihn trösten, doch ich wusste, ich konnte nichts sagen, was den Kummer über seine Krankheit besser machte. Alles was ich tun konnte, war für Jeffrey da zu sein. „Hast du Schmerzen?", fragte ich ihn einmal.

Er lächelte gequält. „Nein, keine Sorge."

„Wenn ich irgendetwas tun kann..."

„Du tust schon alles für mich indem du hier bist, Austin. Alles."

Ich legte meinen Kopf in Jeffreys Schoß und er strich mir sanft durch das Haar. „Wenn ich gesund wäre würde ich dich heiraten, Austin", flüsterte er.

Ich öffnete meine Augen nicht und blieb still. Die Worte verschwanden langsam im Lärm der Großstadt. Sie fanden nie wieder zurück.


Ich konnte mein Glück kaum fassen als ich Dad wiedersah. Jada hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er von seinem Knochenkrebs geheilt war. Man hatte ihm das rechte Bein abnehmen müssen, weswegen er jetzt im Rollstuhl saß.

Er würde weiterleben, ohne sein Bein. Der Krebs hat es mit sich genommen als Beweis, dass er da gewesen war. Er hat sein Zeichen hinterlassen. Aber das ist okay, denn Dad ist jetzt endlich wieder gesund.

„Was ist schon ein Bein gegen ein Leben?", sagte er und lachte, als ich ihn mit Freudentränen in den Augen wiedersah.

Wir waren so glücklich, fühlten uns als wären wir einen Marathon gerannt und hätten endlich das Ziel durchschritten. Als hätten wir die Spitze des Mount Everest erreicht.

Am Esstisch traf ich auf Jada. Für einen kurzen Moment sahen wir uns stumm an, dann bildete sich ein Lächeln auf Jadas Lippen und wir fielen uns in die Arme. Jada war mir ein Rätsel geworden. Ich liebte sie, doch wir hatten uns einen Schritt weit voneinander entfernt, einen guten Schritt, der uns erlaubte, wir selbst zu sein.

„Tut mir leid, dass ich so blöd zu dir war", sagte sie.

„Ich verzeihe dir. Du hattest möglicherweise auch ein bisschen das Recht dazu, das ist okay." Ich war froh, dass wir uns wieder vertrugen, denn ich wusste, dass ich sie brauche, als Schwester und als Freundin.

Ich verstand endlich, dass sie glücklich war, ohne mich, dass wir alt genug waren, unsere eigenen Wege zu gehen. Unser Leben lang waren wir eins gewesen, ein Team. Sie hatte mich beschützt und ich hatte sie dafür mehr geliebt als alles andere. Jetzt würde ich diesen Schutz nicht mehr brauchen, ich war stark genug zu mir zu stehen und mich der Welt zu stellen.

Niemals wieder würde ich daran zerbrechen, dass ich anders war, nur weil ich anders liebte. Jada hatte mich stark gemacht und Jesse noch stärker. Mein Mutter liebte mich, Kurt lernte mich wieder zu lieben und mein Vater hätte mich geliebt.

Ich fühlte mich echt.

Ich setzte mich an den Tisch zu meiner Familie und war überglücklich, dass ich sie hatte. „Na", sagte Mom und lächelte vorsichtig, „da kommt schon unser Essen auf Rädern."

„Der Rollstuhl ist brandneu", erklärte Dad und hob den Topf von seinem Schoß auf den Tisch. „Der hat richtig was unter der Haube."

Jada strahlte. Sie packte den Rollstuhl an den Griffen, schob ihn nach draußen und begann zu rennen.

„Hey! Das Essen!", rief Mom auf der Veranda. Ich hüpfte die Stufen hinunter und rannte hinterher. Jada machte ein paar letzte schnelle Schritte, dann stieg sie mit einem Fuß auf das Gestell und stützte sich mit den Armen auf den Sitz. Sie fuhren frei und unaufhaltsam die Straße hinunter. Dad hob lachend die Arme. Jada jubelte laut. Ich rannte, fühlte mich als könnte ich abheben und die Häuser unter mir lassen.

Dreamboy (#deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt