52 - Austin

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Die großen Sommerferien begannen mit warmen Sonnenstrahlen, die Jada und mich nach Hause begleiteten. Mom und Dad erwarteten uns voller Freude mit einem Grillfest im Garten. Niemand sprach über Stefan oder über Elijah. Einzig Moms Umarmung fiel ein wenig länger aus. „Es gibt tausende Kinder, die ihren Vater nicht kennen", tröstete sie mich. Was sie nicht verstand, war, wie sehr es mich quälte, dass ich es selbst verspielt hatte.

„Ich weiß", sagte ich, „aber wenige, die die Chance dazu hatten und sie nicht genutzt haben."

„Du hast doch alles. Eine super Familie, gute Freunde und du hast einen echt tollen Freund."

Sofort waren meine Gedanken bei Elijah, den ich liebte, zweifellos, und ich hätte auf der Stelle wieder anfangen können zu weinen. Warum spielte sein Leben mich aus?

Ich saß auf der Gartenbank und folgte den Gesprächen. Jada ignorierte mich, ich hatte das Gefühl mich langsam daran zu gewöhnen. Sie hatte mich alleine gelassen mit meinen Problemen.

Später kam überraschend Jeffrey vorbei. Er nahm mich fest in die Arme, ich brauchte das wirklich und war froh, dass er mir Gesellschaft leistete. Ich brauchte ihn auf eine seltsam egoistische Weise, die mir sonst gar nicht ähnlich sah.

Ich war nachdenklich, er bemerkte es und erzählte mir Geschichten, so wie er es getan hatte als er aus Afrika zurückgekommen war und wir uns zum ersten Mal in Kenosha wiedergesehen hatten. Dieser Moment war unvergesslich, ich weiß noch genau wie froh ich war als er mir gegenüber saß, wie komplett ich mich auf einmal gefühlt hatte.

„Lust auf eine Reise mit mir?", fragte ich ihn, als wir am späten Abend zusammen in der Hängematte saßen und Limonade tranken. Über uns leuchteten Lampions in den Bäumen, welche Jeffreys blonde Locken in buntes Licht tauchten.

„Wohin?", fragte er lächelnd, es war eines von den echten, die seit seiner Diagnose immer weniger geworden waren.

„Nach Maryland. Genauer gesagt Baltimore." Ich saugte an meinem Strohhalm und sah ihn von unten herauf an, weil ich wusste, dass er diesen Blick liebte.

„Wohin immer du willst. Ich bin dabei."

„Willst du gar nicht wissen warum?"

„Ich war mir sicher du würdest es mir gleich sagen."

„Mein leiblicher Vater hat dort gewohnt. Ich will seine Familie kennenlernen. Ich will alles über ihn herausfinden. Wenn ich weiß wer er war, dann weiß ich wer ich bin." Ich sah nach oben in den klaren Nachthimmel, Jeffrey hatte mir von den Millionen Sternen erzählt, die man in Afrika sehen konnte. Hier sah man nur wenige.

„Okay", meinte er ganz einfach und nahm meine Hand. Zwischen uns ist etwas Vertrautes, etwas das nie weggegangen ist, es fühlte sich ganz normal an, seine Hand zu halten.

„Hältst du das für verrückt?", fragte ich und betrachtete sein Gesicht. Es hatte sich sehr verändert, war schmaler geworden.

„Nein. Ich kann dich verstehen", antwortete er, „und es gibt kein verrückt, wenn es um Menschen geht, die wir lieben."

Jeffrey war bereit mich zu begleiten, er wollte es unbedingt. Und ich bin froh, wenn er froh ist. Das Reisen mit ihm war lustig, leicht.

Im Bus hörten wir zusammen Musik und weil nur wir sie hören konnten, taten wir so als wären wir selbst die Interpreten. Jeffrey kaufte gesalzene Erdnüsse und wir versuchten sie uns gegenseitig in die Münder zu werfen.

Das College hatte mich verändert, ich hatte begonnen mir Ziele zu stecken, wie mit Jesse, meinem geliebten Jesse, nach Paris zu gehen, irgendwann nach dem College. Ich war dabei mich selbst zu finden, zu entdecken wer ich war und was ich wollte. Dazu gehörte meinen echten Vater kennenzulernen, zumindest das, was von ihm übrig geblieben war. Ich liebte Kurt, zweifellos, und ich wollte, dass er endlich gesund wurde, doch es gab eine Seite in mir, die ich ihm nicht zuordnen konnte, weil sie von einem anderen Mann stammte. Ohne sie fühlte ich mich unfertig, ich konnte und wollte mein Leben nicht leben, ohne zu wissen wer er gewesen war und ob er mich geliebt hätte.

Was auch immer mich so zu ihm hinzog, es machte mich fertig, ihn verloren zu haben.

„Ich werde wahrscheinlich niemals Vater sein", sagte ich nachdenklich, einmal, als wir auf unseren Bus warteten.

Jeffrey wusste nicht, was er sagen sollte, er schwieg lange, und erst als der Bus kam, sagte er: „Du hast noch ein langes Leben vor dir." Es klang, als hätte er seines schon aufgegeben.

Meine Familie wohnte in einem bunten Reihenhaus in einer langen Straße, dich ich mit Jeffrey entlangging. Immer wieder blieb ich stehen und sah mich um, wollte alles um mich erfassen wie ein neugieriges, kleines Kind. Jeffrey trug unsere Taschen, wenn ich stehenblieb, blieb auch er stehen, dann musterte er mich mit einem leichten Lächeln im Gesicht. „So kommen wir nie an", sagte er.

Ich zeigte auf ein blaues Haus, ein hübsches kleines mit einer winzigen Veranda. „Das ist es schon."

Entschlossen sprang ich die schmale Treppe hinauf und drückte erwartungsvoll die Klingel.

Margret öffnete, ich hatte sie von Zuhause aus kontaktiert und sie war es, die mir angeboten hatte, ihnen einen Besuch abzustatten. Sie war nicht besonders groß, etwas rundlich und hatte schulterlanges krauses Haar, sie lächelte herzlich, als sie uns erblickte. „Du musst Austin sein, ich bin Margret, Stefans Frau", sagte sie.

„Ich weiß", erwiderte ich und lächelte zurück. Ich fand sie sofort sympathisch. Margret zeigte uns das kleine Haus, es war liebevoll eingerichtet, sehr gemütlich. Währenddessen erzählte sie von ihrem Leben, von Stefan, meinem Vater.

„Es ist so ein unglaublich seltsames Gefühl hier zu sein", sagte ich nachdenklich, als ich mit Jeffrey an den Gräbern des Friedhofes vorbeiging, auf dem mein Vater begraben liegt. „Auf der einen Seite lerne ich seine Umgebung, seine Arbeit und die Menschen kennen, die er liebte, aber auf der anderen Seite ist alles fremd. Ich kann zu nichts eine Verbindung aufbauen.

Von Stefan ist nichts geblieben außer Fotos und Gegenstände, die zu ihm gehört haben."

„Was hast du erwartet?", fragte Jeffrey, „er ist ja auch ein Fremder."

„Ich weiß nicht." Ich blieb stehen. „In seinem Fotoalbum habe ich ihn als Kind gesehen. Seine Eltern - meine Großeltern. Seine Schwester - meine Tante. Stefan, als er so alt war wie ich es jetzt bin. Sein Lachen. Sein ernstes Gesicht. Sein Schreien."

Ich ging weiter. Jeffrey beobachtete mich wieder mit einem Lächeln im Gesicht.

„In dem Moment war er mir irgendwie nah. Sein Lachen ähnelt meinem, findest du nicht? Ich kann ihn mir endlich vorstellen, ich habe endlich ein Bild von ihm", fuhr ich fort. „Aber es ist nur ein Bild."

Wir kamen an das Grab auf dem sein Name steht. Ich kniete mich hin und legte die Blumen nieder. Wir schwiegen ein paar Minuten.

„Ich hätte dich so gerne kennengelernt. Ich werde mir das nie verzeihen. Aber endlich weiß ich wer du bist. Und ich weiß, wo du bist. Du hast mir gezeigt, dass ich kein Fehler war. Ich bin kein halber Austin mehr."

Jeffrey reichte mir seine Hand und half mir hoch. „Ich bin mir sicher er hätte dich geliebt, Austin", sagte er voller Überzeugung.

„Meinst du echt?"

„Ganz sicher."

Mit einem Mal fühlte ich mich erfüllt, wollte mehr vom Leben. Ich wollte leben für meinen Vater. Vielleicht hätte er mich nie heilen können, wenn er nicht gestorben wäre, vielleicht wären wir uns dann nie begegnet. Es schien mir, als hätte er mir sein Leben geschenkt, was mich erschreckte, aber gleichzeitig fühlte ich mich ihm näher. So war er immer bei mir, ist es immer.

„Was werden wir jetzt machen?", wollte Jeffrey wissen.

„Wir besuchen Jesse."

„New York?"

Ich strahlte. „New York."

Dreamboy (#deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt