3. Kapitel

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Es war ein komisches Gefühl, Kurt und meine Mutter wieder vereint zu sehen. Ich hatte mir diesen glorreichen Moment oft vorgestellt, in meinen Träumen, wie sie sich in die Arme fielen, Mom mit Tränen in den Augen, Kurt mit einem Lächeln im Gesicht. Jetzt waren sie sich gegenüber, Kurt in seinem Krankenbett, Mom am Fenster.

Ich war es nicht gewohnt, ihn so schwach zu sehen, so still und bekümmert. Ich fühlte mich wie ein Geist, halb in diesem Raum, halb in der Vergangenheit.

Mom drehte sich vom Fenster weg und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Reese", flüsterte Kurt ihren Namen. Es klang wie ein Hilferuf.

Ich hielt es nicht mehr aus in diesem weißen, kahlen Raum, wollte dieses Elend nicht mehr sehen, also ging ich nach draußen. Ich hatte das Gefühl Stunden zu warten bis wir das Krankenhaus verließen und gemeinsam zu Kurts Haus fuhren.

Es zeigte deutlich die Symptome seiner Diagnose. Staub bedeckte Böden und Möbel, der Garten war ein halber Urwald und im Keller türmte sich schmutzige Wäsche. „Wir müssen etwas tun", beschloss Mom.

Den ganzen Nachmittag waren wir damit beschäftigt, das Haus zu säubern und aufzuräumen, doch ich war froh, etwas zu tun zu haben. Gegen Abend holten wir Kurt aus dem Krankenhaus, Mom kochte Essen und schließlich saßen wir gemeinsam an einem Tisch. Für eine lange Zeit war nur das Klappern unseres Bestecks zu hören.

„Womit habe ich verdient, dass ihr jetzt hier seid?", fragte Kurt plötzlich in die Stille hinein. Mom legte angespannt ihr Besteck nieder und tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab. „Wir sind der Meinung, dass du das alleine nicht schaffst", antwortete sie langsam und bedacht, „du kannst im Moment kaum laufen. Deine Krankheit ist ernst. Du brauchst unsere Unterstützung, auch wenn du in letzter Zeit alles andere als zuvorkommend warst."

Ihr Blick wanderte zu Jada und mir. „Niemand will, dass du dich quälen musst. Wir wollen dir helfen wieder gesund zu werden, aber wir schaffen das nur als Familie." Kurt sah ebenfalls zu uns, doch ich wich seinem Blick aus und starrte stattdessen auf meinen halbleeren Teller.

Ich hatte keinen Hunger und wollte nicht in das Gesicht sehen, das mich vor einem Jahr so verletzt hatte und welches jetzt nur noch Mitleid in mir wecken würde. Mitleid, das er nicht verdiente, nicht von mir. Ich war fest entschlossen nicht nachzugeben, doch dann tat er etwas, das ich nie im Leben von ihm erwartet hätte.

Kurt begann zu weinen, zum ersten Mal seit fünf Jahren. Anfangs war es ein verzweifeltes Luftschnappen, dann ein tiefes Schluchzen, voller Schmerz und Reue. Es füllte das ganze Zimmer, drängte sich in jeden Winkel, drückte alles in mir unangenehm zusammen. Wir ließen es stumm passieren.

Mom brachte ihn später ins Bett und deckte ihn zu, ich war an der Schlafzimmertür stehengeblieben und spähte durch den Türspalt. Sie streichelte ihm sanft durch das schüttere Haar, eine Geste, die ich lange nicht mehr für möglich gehalten hätte. Bevor sie mich bemerkte, flüchtete ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, jetzt mein eigenes, weil Chrissy nicht mehr bei uns wohnte. Ich zog meine Bettdecke bis zum Kinn, so wie ich es früher immer getan hatte, wenn die Dunkelheit mir Angst gemacht hatte.

Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, wusste ich für einen Moment nicht wo ich war. Doch plötzlich hatte ich ein Gesicht vor Augen, das ich heute wiedersehen würde. Es half mir, dem Elend am Frühstückstisch auszuweichen, ich war den ganzen Morgen wie geladen, doch ich schaffte es in die erste Chemiestunde, bevor ich einen Herzinfarkt erleiden konnte.

Und da war er. Er saß neben Serena an exakt dem Tisch, an dem wir vor einem Jahr noch zusammen experimentiert hatten. Sein Anblick verpasste mir einen warmen Schauer, der wie eine Ladung Strom durch meine Glieder schoss. Elijah hatte sich kaum verändert, was mir Mut gab, den Raum zu durchschreiten und vor seinem Tisch stehen zu bleiben. Er bemerkte mich erst jetzt, sein Blick wanderte zu mir herauf und ich konnte sehen wie er innerlich erschrak.

„Schön dich wiederzusehen", sagte ich und schickte ein Lächeln hinterher, das ich den ganzen morgen geübt hatte. Er reagierte nicht wie ich gehofft hatte, sondern blickte wieder nach vorne zur Tafel, ohne ein Wort zu erwidern.

Es war Serena, die begeistert aufsprang, mich umarmte und mir ins Ohr schrie, wie sehr sie mich vermisst hatte. Ich war gerührt von ihrer netten Begrüßung und gleichzeitig enttäuscht von Elijahs Desinteresse. Mein Elan zerfiel wie ein Kartenhaus.

„Mein Gott Austin! Du hast dich ja komplett verändert!", bemerkte Serena mit großen Augen. Ich winkte ab, denn es schien mir übertrieben so ein großes Ding daraus zu machen.

Ich trug lediglich neue Kleidungsstücke, etwas ausgefallenere als im letzten Jahr. Aus den Augenwinkel sah ich, dass Elijah kurz zu mir herüber schaute und applaudierte Serena innerlich für diesen genialen Zug. Ich verspürte das Bedürfnis mit ihm zu sprechen, deshalb öffnete ich den Mund um etwas zu ihm zu sagen, irgendetwas Interessantes, doch in diesem Moment stand er auf und ging zu den anderen Jungs.

Serena plapperte unaufhaltsam weiter, doch ich bekam es kaum mit, denn alles was mich beschäftigte war Elijah, und dieser hatte mich soeben wortlos abgewiesen. Für mich gab es nichts Schrecklicheres als Abweisung von einer Person, die ich brauchte. Es würde keinen Sinn machen hier zu sein, wenn er mich nicht wollte.

„Er geht mir aus dem Weg, oder?", unterbrach ich sie. „Wer?", fragte sie zurück.

„Elijah. Er mag mich nicht mehr, oder?"

Sie starrte mich einen Augenblick erstaunt an, dann legte sie mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Hast du nicht sein Gesicht gesehen als du eben hereinspaziert kamst? Er ist fast von seinem Stuhl gefallen vor Freude!"

Ich schüttelte trotzig den Kopf, mir war bewusst, dass Mädchen manchmal logen, damit man sich besser fühlte. Wenn Wahrheit verletzt, greifen sie zu einer Lüge. Zu meinem Ärger lachte sie. „Du bist süß!" Sie beugte sich näher zu mir. „Marc sagt, dass Elijah zum Psychiater gehen muss seit seine Mom es erfahren hat."

Das warf mich völlig aus den Socken. „Was?"

„Das war gleich nachdem ihr weg wart, letzten Frühling. Marc hat erzählt, Charlize sei total ausgetickt deswegen. Sie geht sogar mit zum Doktor, denn es sei hauptsächlich sie, die therapiert werden muss. Sie glaubt es wäre eine Phase bei Elijah, so wie alle hier glauben, dass er einen Spaß gemacht hat." Mein Blick flitzte zu Elijah, der zwischen seinen Jungs stand und gerade mit ihnen über irgendwas lachte. Sie schienen vertraut wie eh und je.

„Sie denken, sein Coming Out war nur ein Scherz?", wiederholte ich verwirrt. Serena nickte energisch. „Er wollte, dass alles wieder so wie vorher wird. Hier redet keiner mehr darüber."

So lief das also. Während ich einen Neuanfang versucht hatte, hatte er dafür gesorgt, dass alles beim Alten geblieben war. Bedeutete das, ich musste wieder von vorne anfangen? Jetzt, da ich mir meiner Gefühle bewusst geworden war? Serena schien meinen verzweifelten Gesichtsausdruck zu deuten, denn sie sagte: „Er hat dich nicht vergessen, Austin."

Dreamboy (#deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt