ZWEI oder wie Elaine eine helfende Hand in ihrem Feind sah

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Ganz alleine stand Elaine im Forum, direkt neben der Treppe und unter dem Vertretungsplan. Sie musste noch einmal sicher gehen, dass sie sich nicht verguckt hatte und dort wirklich auch stand, dass sie jetzt Entfall hatten. Ein leiser Freudenschrei entwich ihrer Kehle und brachte ihr wohl wahrscheinlich ein paar komisch Blicke von ihren Mitschülern ein.
Aber die dachten sowieso alle, dass sie eine langweilige Streberin wäre, wenn sie sie nun auch verrückt nennen wollen, sollten sie es einfach tun. Denn sie kannten sie nicht. Jeder bildete sich schon während des ersten Blickes ein Eindruck der Person. Niemand machte sich noch die Mühe die Personen kennen zu lernen. Wer etwas über jemanden wissen will, suchte denjenigen einfach im Internet und beließ es dann dabei.
Es war schon ziemlich schade zu was die Menschheit geworden ist. Jeder sprach davon, dass die inneren Werte am wichtigsten waren, dabei vergessen sie zu erwähnen, dass die inneren Werte gar keine Chance haben sich zu zeigen, da der erste Eindruck und damit das Aussehen entscheidete, ob man diese Person überhaupt kennen lernen will. Man lügt also, wenn man davon sprach, dass die inneren Werte zählten. Doch auch Elaine wusste, dass sie genauso war. Auch sie besaß Vorurteile und sie würde auch nicht abstreiten, dass sie sie hatte.
Für sie war klar, dass der Kumpel von Mia nicht der richtige Freund für sie wäre. Genau wie sein Bruder.
Raphael Seitz und sein jüngerer Bruder Fabian. Schon das erste Mal, als sie Fabian bei ihr im Haus neben Mia sitzend gesehen hatte, wusste sie, dass diese Familie nichts für die Familie Engel war. Natürlich behielt sie ihre Meinung für sich.
Was wäre sie für ein Mensch, wenn sie so etwas laut aussprach und kurz darauf davon sprach, wie schlecht es war sich eine Meinung über jemand unbekannten zu bilden?
Dies wusste sie und doch achtete sie nun stets darauf einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Gebrüder Seitz zu lassen. Obwohl sie Raphael gar nicht kannte, tat sie dies. Selbst von Gerüchten über ihn wusste sie nichts. Alles was sie wusste war, dass sein kleiner Bruder ein Herzensbrecher war und leider war das der einzige Grund für sie Abstand zu ihm zu halten.
Wenn man ein Mädchen des Erich-Kästner-Gymnasiums nach ihm fragte, bekam man als Antwort nur eins: "Was willst du wissen? Weißt du etwa etwas neues über ihn?"
Niemand wusste genaueres über den mysteriösen Jungen und doch standen viele Mädchen auf ihn. Elaine konnte trotzdem nicht verstehen, wie man sich in einen vollkommen Unbekannten verlieben konnte. Sie fand es ziemlich traurig, dass so viele hinter ihm her waren und dies nur aufgrund seines Erscheinungsbildes. Viele sprachen davon, dass er ein Badboy sein soll oder dass er ein Drogendealer war, doch sie glaubte diesem Tratsch nicht.
Für sie war sein Bruder schon Grund genug nicht mehr über diesen Junge herausfinden zu wollen.
Immer noch allein setzte sie sich in die Mensa der Schule. Ihre Schultasche stellte sie neben sich ab und holte ihr Büchlein hervor, ihren kleiner Schatz. Einmal glaubte sie es verloren zu haben, noch nie hatte sie solche Angst gehabt. Auch wenn es nicht ihr Tagebuch war, so war es doch das Fenster und gleichzeitig der Schüssel zu ihrer Seele. In diesem Büchlein schrieb sie alles auf, seien es Termine, Informationen, die sie nicht vergessen durfte, eigene kurze Gedanken oder auch ihre Ängste. Nun waren wieder drei neue Seiten des Buches gefüllt und das Buch war um eine Sache ihrer selbst reicher geworden. Jetzt standen auch ihre Wünsche dort drinnen versteckt.
Genau diese Seiten schlug sie auf und begann sie noch einmal durch zu lesen. Es dauerte nicht wirklich lange, weil sie fast jeden Satz schon auswendig kannte, so häufig hatte sie sich diese 99 Stichpunkte durchgelesen.
Doch auch nun viel ihr das selbe auf. Wie sollte sie diese ganzen Wünsche wahr werden lassen? Natürlich es gab ein paar die nicht so wirklich kompliziert waren, aber es gab auch welche, die konnte sie nicht alleine in Erfüllung gehen lassen. Sie brauchte mindestens noch eine weitere Person, die ihr half. Nur wollte sie auf gar keinen Fall, dass einer aus ihrer Familie ihr half oder gar einer ihrer Freunde.
Wenn ihr einer von denen helfen würde, müsste er die Wahrheit kennen und auch dass sie vor hatten nicht länger als ein Jahr noch zu leben.
Dies hatte sie sogar schon in Anspruch genommen. Im Internet hatte sie sich informiert und hatte auch schon eine E-Mail Adresse und eine Telefonnummer gefunden.
Frustriert, weil sie seit drei Tagen immer an dem selben Punkt ankam, fuhr sie sich über ihre Haare. Wen könnte sie fragen oder eher wer würde ihr helfen? Sie konnte doch auch nicht einfach jemand fremden ansprechen. Das würde doch wahrhaftig verrückt rüberkommen. 'Entschuldigen sie bitte, würden Sie mir helfen meine 99 Wünsche zu erfüllen, weil ich sterbe in einem Jahr und bräuchte Hilfe.' So ging das nicht.
Mit einem Seufzen ließ sie ihren Schädel auf den Tisch fallen. Diese Tat bereute sie aber sofort wieder, weil nun ihre Stirn höllisch weh tat und pochte.
Fluchend rieb sie über die schmerzende Stelle. Das würde bestimmt wieder eine Beule werden. Dann durfte sie mal wieder mit einem Horn durch die Gegend marschieren.
Ein Räuspern schreckte sie aus ihren Gedanken. Hastig drehte sie sich um und sah einen Jungen vor sich stehen. Irgendwoher kannte sie ihn, zumindest meinte sie ihn wieder zu erkennen.
"Ist bei dir noch ein Platz frei?"
Verdattert nickte sie und fragte sich, warum er sich nicht einen der anderen komplett freien Tische setzte. Warum setzte er sich genau an ihren Tisch?
"Was machst du da?" er zeigte auf ihr Büchlein.
Genau, was machte sie da?
"Warum sitzt du hier?"
Einfach mal mit einer Gegenfrage antworten, das war immer gut.
"Weil ich keine Lust hatte allein zu sitzen und ich mich fragte, was du da machst?"
"Hast du mich beobachtet?"
Er nickte nur und grinste sie an. Was war falsch mit diesem Jungen?
"Darf ich mal sehen?"
Sofort schüttelte sie ihren Kopf. Hatte er gerade ernsthaft gefragt, ob er ihr Buch anschauen durfte? Noch nie hatte sie es jemandem gezeigt, aber er konnte das immerhin nicht wissen, erinnerte sie sich.
"Wie heißt du?" wechselte der Unbekannte das Thema.
"Elaine, du?"
"Schöner Name. Ich bin Raphael." stellte sich nun auch der Unbekannte vor.
Jetzt wusste sie auch woher sie meinte ihn zu kennen. Vor ihr saß Raphael Seitz, der mysteriöse Junge. Nur erschien er ihr gar nicht mehr so mysteriös, er war eher freundlich und irgendwie etwas komisch.
Plötzlich flitzte eine Hand nach vorne und entzog ihr das Buch aus ihren Händen. Empört schnappte sie nach Luft. Aber da sie nicht wirklich das Verlangen verspürte sich das Buch zurück zu holen, blieb sie einfach still und beobachtete ihn dabei, wie er sich ihre Wünsche durch las.
Plötzlich verdunkelten sich seine braunen Augen. Seine Fröhlichkeit fiel von seinem Gesicht​ ab, wie ein Maske und eine ernste Miene trat auf sein Gesicht: "Was ist das?"
"Das sind Wünsche oder auch Ziele." beantwortete sie ihm die Frage.
Nun erkannte sie auch den mysteriösen Jungen wieder. Es war wie eine Maske die abfiel und dann war der ihr bekannte Raphael da. Als wäre die Fröhlichkeit eine Maske von ihm gewesen und dieser neue Gesichtsausdruck eine weitere.
"Warum hast du dir sie aufgeschrieben und Notizen dahinter geschrieben? Was soll das?"
Sein kalter Ton erschreckte sie. Er war wie ausgewechselt und irgendwie faszinierte er sie immer mehr. Noch nie hatte sie beobachtet, dass ein Mensch so viele Facetten hatte oder waren es alles nur Masken, die seine wahre Persönlichkeit verdecken und schützen sollen? Sie wusste es nicht, aber eins wusste sie. Vielleicht war sie gerade einen Schritt weiter gekommen, denn irgendetwas in ihr drinnen​ fühlte, dass vor ihr die weitere Person saß.
Ihre Hilfe war Raphael.

So langsam kommt die Geschichte in Fahrt und ich bin wieder zurück. Der Grund in genau 20 Minuten ist der offizielle Ferienbeginn. Wenn das nicht Grund genug ist, weiß ich auch nicht mehr weiter.

~Liv

How I would like to say GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt