VIERUNDSECHZIG oder wie Elaine Angst bekam ihre Liebe zu verlieren

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Je länger sie sprach und sie ihre Lüge immer mehr mit der Wahrheit aufwiegte, konnte sie sehen wie Raphael sich immer mehr vor ihr verschloss. Sein Gesicht wurde kühl und seine Haltung veränderte sich. Zu Beginn saß er weit über den Tisch zu ihr rüber gebeugt und zum Ende hin sah es aus, als würde er am liebsten in den Sitz an seinem Rücken verschwinden. Sein Verhalten verletzte sie und doch konnte sie nicht anders als seine Reaktion zu verstehen. Es war nur verständlich, dass ihre Lügerei ihn verletzt hatte und sein Verhalten zeigte diese Verletztheit nun einmal. Wäre sie an seiner Stelle, wäre sie schon längst aufgesprungen und hätte die Person einfach sitzen gelassen. Allein die Tatsache, dass er nicht so reagierte, rechnete sie ihm deswegen umso mehr noch an.
Sie beendete ihre Erklärung damit, dass sie sich bei ihm entschuldigte. Dann holte sie ihr Notizbuch hervor. Die Seite mit ihren Wünschen wurde dank des Lesezeichens direkt aufgeschlagen. Auf den ersten beiden Seiten waren nur noch acht Wünsche nicht mehr abgehakt. Schnell holte sie einen Stift hervor und machte ein Haken hinter zwei weiteren Wünschen. Nun hatte sie auch den Wunsch, der besagte, dass sie einmal einfach nur die Wahrheit sagen wollte, abhaken können. Doch viel ausschlaggebender war für sie der zweite Haken, den sie ohne nachzudenken gesetzt hatte. Der dritte Wunsch ihrer Liste brannte sich in ihre Augen und geschockt sah sie auf den Haken hinab. Sich verlieben ✔
Sie ließ den Stift aus ihrer Hand rutschen und in der Hoffnung, dass Raphael ihre Aktion noch nicht mitbekommen hatte, blätterte sie schnell auf die nächste Seite. Jetzt hatte sie wirklich ihre innersten Geheimnisse in die Hände ihres Freundes gelegt. Doch sie bereute es nicht. Denn er war nicht nur ein Freund. Er war längst nicht mehr nur irgendein Junge aus ihrem alten Jahrgang. So viel mehr war er in dem dreiviertel Jahr für sie geworden.
Nun war er der Junge, der ihr Herz zum Stolpern und Rasen brachte, der Junge, der ihr mit seinen Berührungen einen Schauer über den gesamten Körper sannte. In ihrem Bauch flogen die Schmetterlinge, wenn sie bei ihm war oder an ihn dachte. Ganz einfach gesagt war er der Junge, der ihr Herz gestohlen hatte und auch wenn sie in ihrem Leben schon viel bereut hatte, in der Hinsicht auf Raphael hatte sie noch nie eine Sache bereut.
Erst nach einer kurzer Wartesekunde traute sie sich ihn anzuschauen. Doch sein Blick war auf das Buch fixiert. Eine kleine Falte zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und plötzlich zweifelte Elaine dann doch. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Sie wusste es auf einmal nicht mehr.
"Vielleicht lass ich dich das einfach erst einmal alles verdauen. Wenn du mich suchst du weißt ja, wie du mich erreichen kannst. Ich gehen zum Rodeo Drive. Also bis später."
Schlussendlich war somit sie es gewesen, die geflohen ist.
Aber sie hatte einfach nicht genau gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Für sie war es wohl genauso verwirrend gewesen wie für ihn. Immerhin hatte sie sich gerade selbst eingestanden, dass sie ihr Herz an ihn verloren hatte. Nur wie hätte sie dies nicht tun können? Er war so lieb und perfekt zu ihr gewesen. Ihr schien es fast so, als wäre es unmöglich für sie gewesen, sich nicht in ihn zu verlieben. Er war ihre Stütze geworden und nun hatte sie Angst davor, dass diese Stütze ab jetzt nicht mehr da sein könnte. Dabei brauchte sie ihn eigentlich mehr denn je. Es war schon bald September und damit blieben ihr dann nicht mehr viele Wochen. Sie konnte jetzt nicht Raphael verlieren, das würde sie nicht verkraften.
Aber sie war auch selbst Schuld gewesen. Es war ihre Entscheidung gewesen ihm nicht die Wahrheit anzuvertrauen und nun musste sie mit ihrem Salat zurechtkommen. Niemand konnte ihr dabei helfen außer er. Für sie hieß es jetzt warten.
Mit der Wahrheit hatte sie die Entscheidungskraft an Raphael abgetreten. Es lag an ihm, wie er damit umging und sie konnte nur hoffen, dass er ihr die Lügerei nicht allzustark nachtrug.
Ihre Füße trugen sie über den Asphalt und auch ihre Augen versuchten die Umgebung möglichst gut aufzunehmen. Doch ihr Gehirn konzentrierte sich nur noch darauf das Gespräch immer und immer wieder in ihren Gedanken abzuspielen. Es versuchte sich an jede noch so kleine Reaktion von dem Jungen zu erinnern und so bemerkte Elaine gar nicht, wie weit und wo lang sie gelaufen war.
Die Stunden vergingen und irgendwann fand sie sich wieder am Strand wieder. Der feine Sand floss zwischen ihre Zehen und sobald sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, vergruben sich die Zehen im Sand. Die Kälte umfing sie und spielte mit ihren Füßen. Tief strömte die Ruhe langsam durch ihre Adern und ihre Gedanken wurden leiser.
Gerade noch pünktlich war sie für den Sonnenuntergang gekommen. Im Momenten stand die Sonne gerade so über dem Horizont. Bald würde sie hinter ihm verschwinden und den Mond den Platz am Himmel frei machen. Die Sterne würden beginnen zu erstrahlen und der Tag wäre offiziell vorbei.
Auf einmal verschwand die Kälte der Nacht und sie fand sich in der Wärme zweier Arme wieder. Ohne sich umdrehen zu müssen erkannte ihr Körper die Person. Ihr Bauch kribbelte und ihr Herzschlag setzte ein oder zweimal aus.
Langsam drehte sie sich zu Raphael um. "Du bist da."
"Wo sollte ich sonst sein?" er schmunzelte und legte seine Stirn gegen ihre.
Er war ihr so nahe, dass sie sich nur ganz leicht nach vorne lehnen müsste und dann könnte sie seine Lippen küssen. Doch genau das konnte sie eben nicht machen, denn nun war es an ihr zuzuhören.
"Aber wenn ich ehrlich bin, war ich mir gar nicht so sicher. Zuerst war ich wütend auf dich und enttäuscht. Dann musste ich dir hinterher sehen, wie du aus diesem Café gerannt bist. Ich glaube ich habe dich lange nicht mehr, so schnell rennen sehen." wieder schmunzelte er, "Es war als würde ich dich verlieren und da wurde mir klar, dass ich das nicht aushalten würde. Ich will nicht mehr ohne dich leben. Ob du es glaubst oder nicht ich habe mich in dich verliebt. Nicht Hals über Kopf, aber dennoch schneller, als ich es mitbekommen konnte. Du bist der Grund, weswegen ich hier bin. Du warst der Grund, weswegen ich mein Abitur wirklich so stark durchgezogen habe und du warst der Grund, dass die letzten Monaten so unglaublichen waren. Immer nur warst du es und du wirst es auch in der Zukunft bleiben. Und wenn diese Zukunft auch nur noch bis zum 20. Oktober dauern wird, so bleibst du es dennoch. Deine Krankheit verändert nicht die Tatsache, dass mein Herz dir gehört. Elaine ich liebe dich und ich möchte zumindest die restliche Zeit, die du dir noch gibst, an deiner Seite sein."
Sanft umfassten seine Hände ihr Gesicht und sobald sich sein Mund nach seiner Ansprache wieder schloss, drückte Elaine ihre Lippen auf seine. Sie hätte es keine Sekunde länger mehr ausgehalten. Vorsichtig bewegte sie ihre Lippen gegen seine und nur nach einem ganz kurzen Moment der Erstarrtheit, reagierte auch Raphael. Seine Hände wanderten ihren Körper hinab und an der Taille zog er sie noch näher zu sich heran.
Erst nach ein paar Minuten lösten sie sich wieder von einander.
"Ich liebe dich auch, Raphael." flüsterte sie.
Lächelnd küsste er sie noch einmal kurz. Dann fing er an weiter zu sprechen, da Elaine ihn scheinbar unterbrochen hatte. "Jetzt wo diese Sache geklärt ist, bleibt nur noch eine Sache übrig. Ich weiß, dass wir beide sehr, sehr jung sind und ich bin mir genauso bewusst, dass ich diese Frage nur stelle, weil die Umstände so sind, wie sie nun einmal sind. Dennoch frage ich dich jetzt einfach." er machte eine kurze Pause und kramte in seiner Jackentasche nach etwas. Dann sank er langsam in die Knie und zog eine Schachtel aus der Tasche hervor. "Würdest du, Elaine Engel, die Ehre erweisen mich nach dieser Woche Los Angeles zum glücklichsten jungen Mann der Welt zu machen und mich in Las Vegas zu heiraten, sodass ich ab dem 21. Oktober um meine Ehefrau und nicht nur meine Freundin trauen kann?"
Hoffnungsvoll schaute er zu ihr hinauf und voller Unglaube über diese Aktion bekam Elaine gar keinen Ton heraus. Über ihre Wangen liefen die Tränen und jede Faser ihres Körpers war mit Glück gefüllt. Immer wieder bewegte sich ihr Kopf auf und ab. Raphael atmete erleichtert aus, als er ihr Nicken sah und schloss sie wieder in seine Arme.
Aus der Schachter holte er einen feinen Ring hervor. Der Ring war nichts besonderes und genau das machte ihn einfach nur perfekt. Sein Mund fand ihren und mit einem Kuss besiegelten sie ihre Liebe. Insgesamt war dies wohl der schönste Moment in ihrem Leben, aber da hatte sie noch gar nicht ihre Hochzeit erlebt und so musste sie diese Wahl in nur ein paar Tagen wieder umwerfen. Doch für den Augenblick war einfach alles perfekt.

How I would like to say GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt